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Kopftuchverbot bei Kindern? Die altbewährte Tradition der Kooperation auf dem Prüfstand

In einer Versicherung gegenüber der Regierung könnte die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) innerhalb einer bestimmten Frist versuchen, die Kopftuchproblematik in elementaren Bildungseinrichtung selbst zu lösen. Dafür müsste sie öffentlichkeitswirksam alle in Österreich lebenden MuslimInnen darüber aufklären und informieren, dass muslimische Mädchen bis zur Religionsmündigkeit gemäß der ausgearbeiteten Glaubenslehre in Österreich kein Kopftuch tragen sollen. Bei uneinsichtigen Eltern könnte dann mittels Einbindung der Schulleitung und Fachinspektoren ein gemeinsames Gespräch zur Lösung der Situation stattfinden. Die Regierung könnte ihrerseits auf den Pfad der Kooperation zurückkehren, in dem sie die Vorschläge der IGGÖ zur Lösung des Problems anhört und zwischenzeitlich ohne Eile in einem Erhebungs- und Evaluierungsprozess am Ende des nächsten Schuljahres die Gesamtsituation mittels konkreter Zahlen evaluiert. Sofern die Initiativen der IGGÖ unzureichend waren, könnte sie letztendlich immer noch ein Gesetz als ultima ratio erlassen. Dadurch wäre nicht nur die Position der Regierung gewahrt, sondern auch die IGGÖ könnte zeigen, dass sie ihre Verantwortung ernst- und gewissenhaft wahrnimmt. 

Am 4. April 2018 machte der Ministerrat den Weg frei für ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen, das ursprünglich im Rahmen der Novelle zum Kinderschutzrecht[1] bis zum Anfang der Sommerferien hätte umgesetzt werden sollen. Aber es verzögert sich, denn es sei unter Beachtung der Religionsfreiheit eben keine triviale Aufgabe sich im Feld von religiöser Symbolik zu bewegen und eine Regelung auszuarbeiten, die auch rechtlich standhalte, verkündete Bildungsminister Heinz Faßmann Anfang Juli[2]. Immerhin soll ein Verbot erlassen werden, welches offensichtlich nur auf eine bestimmte Minderheit abzielt. Die Islamische Glaubensgemeinschaft Österreichs (IGGÖ) wehrt sich vehement dagegen, weshalb sich die Frage stellt, ob es dieses Verbot tatsächlich braucht oder ob es nicht zielführender wäre, den altbewährten Weg der Kooperation zwischen Staat und Kirchen und Religionsgesellschaften (KuR) weiterzugehen. Welche Positionen in dieser Auseinandersetzung von den jeweiligen Akteuren bezogen werden und welche Lösungen sich anbieten würden, sollten folglich in dieser essayistisch gehaltenen rechts- und politikwissenschaftlichen Abhandlung skizziert werden.

Die Position der Regierung und der ExpertInnen

Unabhängig davon, ob sich die Regierung der gesellschaftlichen Tragweite eines solchen Verbotes bewusst ist, versuchte sie bisher ihre Standpunkte mit durchaus nachvollziehbaren Positionen zu untermauern. In diesem Sinne hat das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) am 27. Juni 2018 zur Diskussion mit Experten und Expertinnen geladen, um über das Thema „Das Kopftuch bei Kindern – rechtliche und praktische Perspektiven“[3] zu diskutieren. Eingeladen waren unter anderem Ahmad Mansour (Diplomierter Kinder- und Jugendpsychologe), Mohamed-Chérif Ferjani (Politologe u. Islamwissenschaftler), Gerhard Weinberger (ehem. Botschafter in Tunis), Renate Winter (Vorsitzende des UN-Kinderrechtsausschusses) sowie Vertreter aus der Schulpraxis und Integrationsarbeit. Von der IGGÖ war niemand am Podium vertreten, jedoch befanden sich zwei Islamische FachinspektorInnen und wenige ReligionslehrerInnen im Publikum, die sich sachlich gegen das Verbot aussprachen.

Alle DiskutantInnen am Podium waren sich über die Ausgangslage des angekündigten gesetzlichen Kopftuchverbots an Kindergärten und Volksschulen einig, so dass der Grundtenor lautete: Muslimische Kinder im Kindergarten und in der Volksschule sollen kein Kopftuch tragen! Insbesondere wurde dieser Grundtenor mit den zwei folgenden – hier nur oberflächlich dargestellten – Hauptargumenten untermauert:

  • Die Rechte der Kinder seien gemäß der UN-Kinderrechtskonvention[4] insofern zu schützen, als das Kopftuch die Mädchen in ihrer kindlichen Entwicklung und im gesellschaftlichen Leben behindert, diskriminiert und ausgrenzt;
  • Muslimische Mädchen und Frauen würden in den patriarchalen Strukturen des Islam durch das Kopftuch unterdrückt, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt und zu Objekten der Sexualität gemacht;

Die Gründe der muslimischen Eltern, warum sie ihren Kindern das Kopftuch im Kindesalter nicht verbieten, wurden gleich anfangs von Mansour dargestellt. Ihm zufolge würde ein Teil der muslimischen Eltern ihre Kinder vor dem Werteverfall der westlichen Welt schützen wollen, vor allem in Bezug auf die ständig fortschreitende sexuelle Freizügigkeit und folglich in Bezug auf die Wahrung der eigenen religiösen und kulturellen Identität aufgrund einer gewissen Angst gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Nachdem Mansour von europäischen Werten sprach, konterte Ferjani, dass es in einer pluralen Gesellschaft nur um universale Werte des Zusammenlebens gehen könne. Mit dieser Feststellung mag er durchaus recht haben, doch scheint es sich gerade im Bereich der sexuellen Freizügigkeit zu spießen, wenn, zynisch gesprochen, ein Teil der Gesellschaft lieber mehr Kleidung trägt, während es dem anderen Teil nicht schnell genug gehen kann, möglichst viel Kleidung abzulegen.

Die Tücken einer gesetzlichen Regelung

Dass die Regierung, ähnlich wie beim Antigesichtsverhüllungsgesetz 2017[5], abermals ohne konkrete Zahlen, diesmal von kopftuchtragenden Kindergartenkindern und Volksschülerinnen, ein gesetzliches Verbot erlassen möchte, ist bedenkenswert und im höchsten Maße populistisch. Selbst vonseiten der Landesräte und –rätinnen ortet man keinen dringenden Handlungsbedarf in dieser Sache, sondern viel eher in den Bereichen Kinderbetreuung und sprachliche Frühförderung.[6] Die Regierung muss sich deshalb abermals die Frage gefallen lassen, ob ein gesetzliches Verbot für eine vermutlich sehr geringe Anzahl von Schülerinnen nicht überschießend ist. Noch skurriler wird ein solches Verbot, wenn man sich die Frage stellt, wem ein solches Verbot nützt. Denn letztlich wird davon jene Kraft am meisten profitieren, gegen die die Regierung zurecht vorgehen will: der politische Islam bzw Islamismus im Sinne sunnitisch-extremistischer Netzwerke[7]. Warum?

Ein gesetzliches Verbot nur für eine religiöse Minderheit kann dem generellen Empfinden der gesellschaftlichen Zugehörigkeit dieser Minderheit schaden, wie beispielsweise die Lehrerin Fereshta Ludin bekräftigt, die vor 20 Jahren in Deutschland als kopftuchtragende Lehrerin den Streit um das Kopftuch vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerG) verloren hat: „Baden-Württemberg ist für mich persönlich die Symbolfigur für Diskriminierung geworden“[8]. Während der zweite Senat des BVerG im Jahr 2015 entschied, dass er ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen nicht mehr mit der Verfassung vereinbar hält[9], versucht die österreichische Regierung unbeirrt eine verfassungskonforme Lösung zu finden. Doch kann die Regierung wollen, dass Betroffene und Teile der muslimischen Gemeinschaft irgendwann Österreich als Inbegriff von Diskriminierung bezeichnen? Daneben muss sich die Regierung die durchaus provokante Frage gefallen lassen, ob sie dem politischen Islam Schützenhilfe leisten möchte, wenn sie MuslimInnen, die mit Diskriminierung und Islamfeindlichkeit argumentieren, durch solche Maßnahmen erst recht in die Fänge radikaler Gruppierungen treibt. Manche bösen Zungen sprechen bereits von einer Self-Fulfilling-Prophecy[10], denn die Probleme sind noch überschaubar und müssten nicht mit der Brechstange gelöst werden.

Staatliche Grundrechtsproblematik

Gerade mit Blick auf garantierte Grundrechte darf nicht vergessen werden, dass es sich bei der Frage nach dem Kopftuch um einen Teil der Glaubenslehre und somit um eine „innere Angelegenheit“ der IGGÖ handelt. Die wesentlichsten Bestandteile solcher Angelegenheiten sind nach § 1 Anerkennungsgesetz 1874 die Religionslehre, ihr Gottesdienst und ihre Verfassung, die entsprechend der korporativen Religionsfreiheit und gemäß Artikel 15 StGG[11] von jeder KuR selbständig (autonom) geordnet und verwaltet werden.[12] Diese Auffassung spiegelt sich wieder in den zwei Kopftuch-Erlässen vom Jahr 1992 unter Minister Scholten (SPÖ) und vom Jahr 2004 unter Ministerin Gehrer (ÖVP). Letzterer lautet wie folgt:

„Das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Mädchen (bzw. Frauen) fällt als religiös begründete Bekleidungsvorschrift unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 des Staatsgrundgesetzes 1867 bzw. Art. 9 der MRK. Das Schulunterrichtsgesetz hingegen kennt keine, diese im Verfassungsrang stehende Norm einschränkende Bekleidungsvorschrift. Eine Einschränkung religiöser Gebote steht außerkirchlichen Stellen nicht zu. Daher wäre auch ein allfälliger Beschluss des Schulgemeinschaftsausschusses bzw. des Schulforums, welcher das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Mädchen im Unterricht per Hausordnung bzw. durch eine Verhaltensvereinbarung verbietet, rechtswidrig. Auf §63a Abs. 17 bzw. §64 Abs. 16 SchUG wird hingewiesen.“[13]

Wenn die Regierung künftig für Musliminnen regelt, inwieweit diese berechtigt sind das Kopftuch zu tragen, dann greift sie unmittelbar in das Selbstbestimmungsrecht der IGGÖ ein und sieht sich mit den drei verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Religionsfreiheit[14] konfrontiert. Diesem Eingriff ist sich auch der Verfassungsdienst bewusst, weshalb dieser anregt, eine Beschreibung des Zweckes der fraglichen religiösen Bekleidung zu vermeiden und stattdessen auf neutrale Ziele abzustellen, wie beispielsweise auf die „geschlechtliche Segregation“ und auf „verfassungsrechtliche Grundwerte“.[15] Zu messen wird eine solche Regelung an Artikel 9 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention sein, die staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit nur insofern erlaubt, als sie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.“ Anhand dieser relativ weiten und unbestimmten Vorbehaltsgründe wird das geplante Verbot gemessen werden. Jedoch hat der Staat nach herrschender Lehre und Rechtsprechung einen gewissen Spielraum, vor allem dann, wenn das Selbstverständnis hinsichtlich charakteristischer Merkmale und besonderer Funktionen einer Glaubensgemeinschaft nicht eindeutig determiniert ist. Das ist insofern bedeutsam, als im Falle ungerechter Behandlungen von KuR eben dieses Selbstverständnis von den Höchstgerichten herangezogen und unter Berücksichtigung religionsrechtlicher Prinzipien, darunter der Neutralitäts- und Paritätsgrundsatz, beurteilt wird.[16]

Eine derartige staatliche Regelung für ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen mag allerding noch eine untergeordnete Rolle spielen, wie noch zu sehen ist. Anders wird die Debatte bei einem allfälligen Kopftuchverbot für Pubertierende und Erwachsene verlaufen, weshalb die IGGÖ gut beraten ist, sich rechtlich bestmöglich auf künftige staatliche Eingriffe vorzubereiten. Nicht nur die FPÖ Wien hat beispielsweise am 25.06.2018 einen Beschlussantrag vorgelegt, wonach die Stadtregierung aufgefordert wurde, „ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen und sonstiges Personal öffentlicher und nichtöffentlicher Bildungseinrichtungen (Kindergärten, Pflichtschulen, Kinderbetreuungseinrichtungen) einzuführen und konsequent zu vollziehen“[17]. Auch Bildungsminister Heinz Faßmann kann sich vorstellen, eine gesetzliche Regelung zu finden, dass Lehrerinnen außerhalb des Religionsunterrichts kein Kopftuch tragen dürfen.[18]

Und was sagt die IGGÖ zu all dem?

In einer Stellungnahme vom 4. April dJ spricht sich die IGGÖ mit aller Entschiedenheit gegen das von der Regierung geplante Verbot aus. Wiederholt betont sie, dass ihr erstes Anliegen das Kindeswohl sei und, dass eine Verbotspolitik nur Fronten schaffe, wo keine bestehen müssten[19]. Abgesehen davon, dass der Qur’anvers 24:31[20] die Kinder eindeutig vom Tragen eines Kopftuchs bzw von dezenter Kleidung zur Bedeckung der Reize ausnimmt, dürfte sich die IGGÖ auf keine klare Linie einigen können. Auch ein Kompromiss mit der Regierung ist nicht in Sicht, weshalb kritisch nachgefragt werden kann, ob diese Problematik neben anderen Gründen nicht auch mit einer mangelnden Übersetzung von religiösen Inhalten in eine säkulare, also in eine öffentlich zugängliche Sprache, zusammenhängt[21]. In der Stellungnahme vom Feber 2017 wird ersichtlich, wie schwer sich die IGGÖ mit dem Thema tut.

„Vor allem wenn in einem so zarten Alter, dass von einem bewussten eigenen Willen das Kopftuch zu tragen nicht ausgegangen werden kann, damit begonnen wird, steht im Raum, dass hier andere Personen über den Kopf des Kindes hinweg eine Entscheidung getroffen haben. Das Argument: ‚Sie sollen sich gewöhnen.‘ wäre sofort mit dem islamischen Prinzip zu entkräften, dass man die Religion nicht erschweren darf, sondern die Religion ganz im Gegenteil ‚eine Erleichterung‘, also eine Hilfestellung im Alltag darstellen soll. Es wäre also nicht nachzuvollziehen, warum Mädchen zu etwas angehalten werden sollen, was für sie von der Religion her nicht vorgeschrieben ist. […] Berücksichtigt werden soll auch, wie sehr die moderne Pädagogik zu Recht darauf baut, die Persönlichkeit des Kindes anzuerkennen und damit Ausdrücke eigener Entfaltung zu respektieren. Falls nun ein Mädchen, vor allem wenn es bereits die dritte oder vierte Klasse erreicht hat, ein Kopftuch trägt, sich bei ihr aber bereits eindeutig eine starke eigene Persönlichkeit ausgeprägt hat, so stellt dies einen anderen als den zuvor geschilderten Fall dar.“[22]

Dieser Ausschnitt zeigt deutlich die Zwickmühle, in der sich die IGGÖ befindet. Einerseits der bedingt aussagekräftige Versuch gegenüber der Gesellschaft und der Regierung, die Rolle des Kopftuchs für österreichische Musliminnen in einem Minderheitenkontext deutlich und klar festzulegen und in eine säkulare Sprache zu übersetzen. Andererseits das Bemühen am Festhalten an klassisch-traditionellen islamischen Lehren, die in unterschiedlichen kulturellen, sozialen und politischen Kontexten entstanden sind und heute in ihrer Vielfalt gelebt werden. Obwohl es prinzipiell einen Konsens und Kompromiss im Sinne des oben genannten Grundtenors geben könnte, lehnt die IGGÖ vehement die gesetzliche Verankerung des Verbots ab. Dieses wird als kontraproduktiv empfunden, weil man muslimische Eltern bevormunde und die Polarisierung weiter vorantreibe, wie die Frauenbeauftragte der IGGÖ Carla-Amina Baghajati[23] meinte.

Lösungsansätze?

Die ebenfalls am Podium vertretene Aktivistin aus dem interreligiösen Bereich, Emel Zeynelabidin, forderte eine intensive Einbindung der IGGÖ. Die IGGÖ solle Verantwortung für die Muslime und Musliminnen in Österreich übernehmen. In ihren Ausführungen war von der Kommunikation der IGGÖ mit der muslimischen Gemeinschaft die Rede, die sicherstellen könnte, dass allen muslimischen Eltern das klare und deutliche Selbstverständnis der IGGÖ hinsichtlich der Ablehnung des Kopftuches im Kindesalter, zumindest bis zur Pubertät, vermittelt werde. Inspiriert von dieser Idee könnten als Lösung für die Wahrung des Kindeswohls ReligionslehrerInnen und FachinspektorInnen vermehrt miteinbezogen werden, um etwaige Problemfälle künftig gemeinsam mit den Eltern und der Schulleitung individuell zu behandeln. Die Regierung könnte diesbezüglich im ohnehin personell anwachsenden Kultusamt oder im Bildungsministerium eine Mediationsstelle unter Einbeziehung der IGGÖ einrichten, die individuelle Lösungen auf je unterschiedliche Problemlagen finden könnte, während die IGGÖ ihre Position unmissverständlich in der Öffentlichkeit kommuniziert. Eine solche Vorgehensweise wäre jedenfalls im Einklang mit der österreichischen Tradition, die sich im Rahmen des „Kooperationssystems“[24] durch deliberative und kommunikative Elemente zur Konfliktlösung auszeichnet.

Meines Erachtens müsste die von Zeynelabidin angesprochene Verantwortung der IGGÖ noch weitergehen, weil die Rechtsprechung im religionsrechtlichen Bereich auf das bereits erwähnte Selbstverständnis abzielt und dementsprechend klare Antworten auf theologische Fragestellungen erwartet werden. Für die IGGÖ würde das in weiterer Folge bedeuten, sich ernsthaft mit brennenden theologischen und minderheitenrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen:

  • Folgt man der traditionellen islamischen Lehre, wonach die Religionsmündigkeit mit dem Eintritt in die Pubertät beginnt, oder folgt man dem österreichischem Recht, wonach die volle Religionsmündigkeit zur Ausübung der individuellen Religionsfreiheit mit dem 14. Geburtstag eintritt?
  • Ist das Kopftuch im österreichischen Kontext für Musliminnen fard (verpflichtend) oder bloß mandub (empfohlen) und welche Konsequenzen folgen daraus für Musliminnen im öffentlichen Leben?
  • Inwieweit setzt man sich mit darura auseinander, wonach traditionellen islamischen Dogmen mit dem Grundsatz “Not kennt kein Gebot” begegnet wird, oder mit maslaha, wonach der überwiegende Nutzen den geringer wiegenden Schaden verdrängt?[25]

Um diese und künftig auftretende Fragen im besten Wissen und Gewissen für die österreichischen MuslimInnen beantworten zu können, könnte auch die Gründung einer madhab (Rechtsschule) für Österreich durch die IGGÖ, besetzt mit heimischen TheologInnen, PhilosophInnen, JuristInnen, PolitikwissenschaftlerInnen, PädagogInnen, SoziologInnen, PsychologInnen etc., in Erwägung gezogen werden.[26] Vielleicht liegt diese von außen so wahrgenommene Untätigkeit auch daran, dass die IGGÖ mit dieser – dem österreichischen Religionsrecht anhaftenden – Besonderheit der „Verkirchlichung“ von Religionsgesellschaften nicht zurechtkommt, oder womöglich das darin liegende Potential verkennt. Ein Potential, das nicht nur im verantwortungsvollen Umgang der Interessen aller MuslimInnen in Österreich, sondern auch hinsichtlich des politischen Zusammenwirkens mit der Regierung bzw dem Kultusamt genützt werden könnte, unabhängig davon, welcher ethnischen Gruppierung man angehört. Mit einer solchen Einstellung könnten dann womöglich auch die nichtorganisierten MuslimInnen erreicht werden und zugleich ein Islam österreichischer Prägung entstehen. Allerdings haben wir bisher im Gegenteil, verkürzt und überspitzt gesagt, lediglich türkisch-, bosnisch-, arabisch-islamische Traditionen in Österreich.

Dies resultiert nicht zuletzt aus der Struktur der IGGÖ, die stark von ethnischen Interessen und ausländischen Einflüssen[27] (Stichwort: ATIP) geleitet ist, worauf alleine schon die selbstgewählten Namen der Kultusgemeinden[28] hindeuten. Zur Verteidigung dieser Kultus-Organisationen muss aber festgehalten werden, dass sie bereits vor, während und nach der Gastarbeiterzeit maßgeblich am Aufbau der IGGÖ beteiligt waren. Jedoch ist die Ausgangssituation heute eine andere, und so hat sich die muslimische Gemeinschaft seither massiv verändert. Sie ist von Generation zu Generation ein Stück weit „österreichischer“ geworden. Im besten Fall sind sie mehrsprachig aufgewachsen und verbinden ihre traditionellen von den Eltern hergebrachten Wurzeln mit der österreichischen Kultur.

Resümee

Während die Regierung und die hinzugezogenen Experten dem Grundtenor entsprechend auf dem Standpunkt des Kindeswohls stehen, verteidigt sich die IGGÖ mit dem elterlichen Erziehungsrecht und der korporativen Religionsfreiheit. Obwohl in der Sache selbst durchaus ein Konsens erblickt werden kann, findet sich in der Umsetzung dieses Konsenses kein gemeinsamer Weg. Während die Regierung in aller Professionalität ihr WählerInnenklientel mit populistischen Gesetzesvorhaben bedient und den Weg der Kooperation im Sinne des österreichischen Systems verlässt, sieht sich die IGGÖ mit ihren hauptsächlich türkischen und bosnischen Organisationen immer weiter in die Ecke gedrängt, aus der selbst die Rufe nach Vernunft, nach bestem muslimischen Verhalten und Frieden nur mehr schwer zu hören sind. Doch es ginge auch anders:

Obwohl es durchaus verständlich ist, dass viele MuslimInnen ein bloß auf muslimische Mädchen abzielendes Gesetz diskriminierend empfinden, wäre es gerade für die IGGÖ im Rahmen ihrer Autonomie möglich, ihren Kooperationswillen mit der Regierung unter Beweis zu stellen. In einer Versicherung gegenüber der Regierung könnte die IGGÖ innerhalb einer bestimmten Frist versuchen, die Kopftuchproblematik in elementaren Bildungseinrichtung selbst zu lösen. Dafür müsste sie öffentlichkeitswirksam alle in Österreich lebenden MuslimInnen darüber aufklären und informieren, dass muslimische Mädchen bis zur Religionsmündigkeit gemäß der ausgearbeiteten Glaubenslehre in Österreich kein Kopftuch tragen sollen. Bei uneinsichtigen Eltern könnte dann mittels Einbindung der Schulleitung und Fachinspektoren ein gemeinsames Gespräch zur Lösung der Situation stattfinden. Die Regierung könnte ihrerseits auf den Pfad der Kooperation zurückkehren, in dem sie die Vorschläge der IGGÖ zur Lösung des Problems anhört und zwischenzeitlich ohne Eile in einem Erhebungs- und Evaluierungsprozess am Ende des nächsten Schuljahres die Gesamtsituation mittels konkreter Zahlen evaluiert. Sofern die Initiativen der IGGÖ unzureichend waren, könnte sie letztendlich immer noch ein Gesetz als ultima ratio erlassen. Dadurch wäre nicht nur die Position der Regierung gewahrt, sondern auch die IGGÖ könnte zeigen, dass sie ihre Verantwortung ernst- und gewissenhaft wahrnimmt.

Demgegenüber ohne konkrete Zahlen ein voreiliges und überschießendes Gesetz zu erlassen, entspricht einer höchst gefährlichen Politik der Spaltung, die jedenfalls dem friedlichen Zusammenleben einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft und der sozialen Kohäsion entgegensteht.

Mag. Michael Ameen Kramer

 

[1] Der Standard, Kopftuchverbot kommt durch Kinderschutzgesetz, 04.04.2018: https://derstandard.at/2000077291163/Ministerrat-beraet-Kopftuchverbot-in-Kindergarten-und-Volksschule (11.07.2018).

[2] oe24, Faßmann: Kopftuch-Verbot auch für Lehrerinnen, 06.07.2018: http://www.oe24.at/oesterreich/politik/Fassmann-Kopftuch-Verbot-auch-fuer-Lehrerinnen/340154744 (10.07.2018).

[3] BMEAI, Außen- und Integrationsministerin Karin Kneissl eröffnet Expertendiskussion zum Thema Kopftuch bei Kindern: https://www.bmeia.gv.at/das-ministerium/presse/aussendungen/2018/06/aussen-und-integrationsministerin-karin-kneissl-eroeffnet-expertendiskussion-zum-thema-kopftuch-bei-kindern/ (11.07.2018).

[4] Übereinkommen über die Rechte des Kindes, BGBl Nr. 7/1993: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10001223 (11.07.2018).

[5] Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit, BGBl. Nr. 68/2017.

[6] Kurier, „Ablenkungsmanöver“: Landesräte kritisieren Kopftuchverbot, 09.07.2018: https://kurier.at/politik/inland/ablenkungsmanoever-landesraete-kritisieren-kopftuchverbot/400063832 (11.07.2018).

[7] Bundesministerium für Inneres (BVT), Verfassungsschutzbericht 2017, 2018, 13: http://www.bvt.gv.at/401/files/Verfassungsschutzbericht2017.pdf (11.07.2018).

[8] Stuttgarter Nachrichten, Darf mit Kopftuch unterrichtet werden?, 05.07.2018: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.20-jahre-streitthema-darf-mit-kopftuch-unterrichtet-werden.713ddefb-4e75-497b-8b80-bb2cb5f9e266.html (11.07.2018).

[9] Deutsches Bundesverfassungsgericht, Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen ist mit der Verfassung nicht vereinbar, Pressemitteilung Nr. 14/2015 vom 13.03.2015: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/bvg15-014.html (11.07.2018).

[10] Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist zu Beginn eine falsche Bestimmung der Situation, die ein neues Verhalten bewirkt, welches die ursprünglich falsche Bestimmung richtig werden lässt. Siehe Keuschnigg/Wolbring, Robert K. Merton: The Self-Fulfilling Prophecy/The Matthew Effect in Science, in Kraemer/Brugger (Hrsg), Schlüsselwerke der Wirtschaftssoziologie, 2017, 178.

[11] Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867.

[12] Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht, 2003, 68.

[13] Erlass vom 23. Juni 2004 durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, ZI 20.251/3-III/3/2004.

[14] Artikel 14 StGG, Artikel 63 Staatsvertrag von St. Germain und Artikel 9 EMRK.

[15] Die Presse, Kopftuchverbot im Kindergarten laut Verfassungsdienst zulässig, 15.07.2018: https://diepresse.com/home/innenpolitik/5464518/Kopftuchverbot-im-Kindergarten-laut-Verfassungsdienst-zulaessig (16.07.2018).

[16] Potz/Schinkele, Religion and Law in Austria, 2016, 97 f.

[17] Beschlussantrag von FPÖ Gemeinderäten im Rahmen der Debatte zum Rechnungsabschluss 2017 am 25.06.2018: https://www.wien.gv.at/presse/2018/06/25/38-wiener-gemeinderat-12.

[18] oe24, Faßmann: Kopftuch-Verbot auch für Lehrerinnen, 06.07.2018: http://www.oe24.at/oesterreich/politik/Fassmann-Kopftuch-Verbot-auch-fuer-Lehrerinnen/340154744 (10.07.2018).

[19] IGGÖ, Stellungnahme der IGGÖ zur Forderung der Regierung ein Kopftuchverbot für Kindergärten und Volksschulen einzuführen, 04.04.2018: http://www.derislam.at/iggo/?f=news&shownews=2110&kid=70 (11.07.2018).

[20] „[…] Und sie sollen nicht (mehr von) ihren Reizen zeigen außer […] Kindern, die der Blöße der Frauen noch ungewahr sind; […].“ Vgl. Asad, Die Botschaft des Koran – Muhammad Asad: Übersetzung und Kommentar, 2015, 677.

[21] Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in Habermas/Ratzinger(Hrsg), Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. 2005, 36.

[22] IGGÖ, Kopftuch im Kindesalter, 02.02.2017: http://www.derislam.at/iggo/?f=news&shownews=2065 (11.07.2018).

[23] Kurier, Psychologe Ahmad Mansour: ‚Kopftuch ist Kindesmissbrauch‘, 28.06.2018: https://kurier.at/chronik/oesterreich/psychologe-ahmad-mansour-kopftuch-ist-kindesmissbrauch/400057790 (05.07.2018).

[24] Federal Chancellery of the Republic of Austria, Das Kultusamt: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/kultusamt (11.07.2018).

[25] Rohe, Das islamische Recht, 2009, 66.

[26] Al Alwani, Towards a Fiqh for Minorities – Some Basic Reflections, trans. by Ashur A. Shamis, 2010, 3.

[27] Kurier, Erdogans langer Arm zur IGGÖ, 26.08.2017: https://kurier.at/politik/inland/erdoans-langer-arm-zur-iggoe/282.604.674 (11.07.2018).

[28] IGGÖ, Kultusgemeinden: http://www.derislam.at/iggo/?c=content&cssid=Kultusgemeinden&navid=256&par=300 (11.07.2018).

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