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Wie Radikalisierung funktioniert – Teil II

“Während der gesamten Diskussion achte ich darauf, sie nicht zu sehr in die Ecke zu drängen. Es ist ein heikles Spiel. Versuche ich ihr Kartenhaus mit Nachdruck und allem was ich sage zum Einsturz zu bringen wird sie komplett zumachen und mich abblocken. Halte ich mich mit meinen Gegenargumenten zurück oder verwende nur schwache Argumente, wird sie mich nicht ernst nehmen und dies könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie sich ihrer Ideologie noch sicherer wird.”

Auf Teil I folgt bekanntlich Teil II…

Ich sitze also mit der Schülerin und ihren Freundinnen in einem kleinen Sesselkreis, neben mir mein Freund und
Kollege. Wir kommunizieren fast schon telepathisch und schicken uns einen Seufzer. Können wir sie überhaupt knacken? Sie macht oft einen unsicheren Eindruck. Immer wenn ich diese Unsicherheit in ihren Augen spüre, sprießt in mir ein Funke Hoffnung, als ob sie es erkennen würde, setzt sie sofort nach:

„…aber der Taghut“ und dann reiht sie eine Reihe von Aussagen aneinander, immer und immer wieder.

Vielleicht kurz zur Erklärung: das arabische Wort „Taghut“ (Plural: Tawaghit) bezeichnet im vorislamischen Arabien jene Gebäude, die als Heiligtümer von Gottheiten verehrt wurden. Heute wird der Begriff von bestimmten Strömungen innerhalb des Islams als Sinnbild des Bösen verstanden. Also etwa das „korrupte System, in welchem wir leben“ und all jene die es unterstützen, alles Taghut. Bei keiner Freitagspredigt, in keiner Diskussion mit Freunden, in keiner Religionsunterrichtsstunde hatte ich dieses Wort jemals gehört, niemals. Ich selbst musste die Bedeutung erst lernen, als ich mit diesen Menschen in Kontakt trat. Es ist also definitiv nicht im „Kanon“ der islamischen Wissensübermittlung,

Rami Ali, CEAI
Rami Ali, CEAI

sprich es handelt sich um sehr spezifisches Wissen. Eben aufgrund dieses Taghuts, dürfe man nicht wählen, so die Argumentation. Damit würde man Herrscher legitimieren, die den Taghut aufrechterhalten und außerdem richten diese Herrscher nicht mit Gottes Gesetz, mit der Scharia, warum sollte man sie also unterstützen? Eine typische Argumentation dieser Menschen. Sie scheint überzeugt zu sein von dem was sie sagt aber irgendwie auch nicht, noch immer diese Unsicherheit. Hat sie Angst davor, dass ich ihr eine Frage stelle, die sie nicht beantworten kann oder ist sie  wirklich unsicher? Das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht sagen aber ich entschloss mich dazu, dieses von ihr errichtete Gebilde zum Einsturz zu bringen, indem ich an ihre reflexiven Fähigkeiten appellierte. Sie sollte selbst merken, dass das was sie sagt, wenig Sinn macht. „Nun gut, dann gehen wir alle nicht wählen, weil wir den Taghut nicht unterstützen wollen, was passiert dann?“, frage ich sie. Sie zuckt mit den Schultern. Ich verweise sie auf Sure 9, Vers 71:  „Sie (die Gläubigen) gebieten das Gute und verwehren das Üble…” und frage sie, was dann ihr Beitrag zum „Gebieten vom Guten“ sei. Ich unterstreiche mehrmals, dass sie dann vielmehr das Böse bzw. Üble währen lassen würde ohne etwas dagegen zu tun. Ich spiele auf etwas ganz Bestimmtes an. Nach kurzen Überlegungen widersetzt sie sich: „Aber der Taghut ist nicht das Gute“. Genau das wollte ich hören. Ich fahre fort: “Okay anders rum, was wenn dann rechtspopulistische Parteien die Überhand gewinnen und daraufhin vielleicht das Tragen des Kopftuchs in der Schule verbieten, was dann?“. „Na dann geh ich nicht mehr in die Schule“, antwortet sie rasch. „Okay, und wie willst du das mit dem islamischen Gebot vereinen, nämlich der Pflicht, dass jeder Muslim und jede Muslimin nach Wissen streben muss?“, fahre ich fort und erkläre ihr, eine der vielen anerkannten Bedeutungen von Dschihad (=arab. Bemühen/sich abmühen), zB. auf dem Wege zum Erwerb von Wissen. „Jetzt hast du sie“, denke ich mir. Etwas zu voreilig wie sich rausstellen sollte. Sie kontert: „Dann bleibe ich daheim, ich kann ja auch daheim lernen“. That was unexpected. Ich lasse mir meine Verwunderung nicht anmerken und frage sie, was sie macht, wenn sie dazu gezwungen wird oder Strafe zahlen muss oder was auch immer. „Ich bezahle das Geld, vielleicht ist das eine Prüfung von Allah und er will sehen wie ich mich halte.” Ruhig bleiben, denke ich mir und überlege zugleich wie ich weiter vorgehen könnte. Ich muss ihr Vertrauen gewinnen, sie muss das Gefühl haben, dass ich all ihre Überlegungen respektiere, akzeptiere und mir darüber Gedanken mache. Ich entschließe mich dazu, sie mit der Inkonsequenz ihres Denkmusters zu konfrontieren und frage sie, ob sie denn krankenversichert sei. Rasch entgegnet sie: “Natürlich”. “Also zahlt der Staat deine Rechnungen wenn du mal ins Spital kommst, er zahlt übrigens auch für deine Ausbildung”, sage ich und blicke ihr in die Augen, während ich mich langsam nach vor lehne. “So, jetzt stammt dieses Geld aber von diesem Taghut – Staat bzw. der Taghut – Regierung und dennoch nimmst du es in Anspruch, warum?”, frage ich sie mit Nachdruck, woraufhin sie zögerlich mit den Schultern zuckt und leise etwas murmelt was ich nicht ganz verstehe.
Während der gesamten Diskussion achte ich darauf, sie nicht zu sehr in die Ecke zu drängen. Es ist ein heikles Spiel. Versuche ich ihr Kartenhaus mit Nachdruck und allem was ich sage zum Einsturz zu bringen, wird sie komplett zumachen und mich abblocken. Halte ich mich mit meinen Gegenargumenten zurück oder verwende nur schwache Argumente, wird sie mich nicht ernst nehmen und dies könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie sich ihrer Ideologie noch sicherer ist. Immer wieder schaue ich rüber zu ihren Freundinnen, die auf Grund der Antworten des Mädchens häufig seufzen, und symbolisiere ihnen, dass sie dies lassen mögen. Es ist also ein ständiges Geben und Nehmen. Ich lasse keinen Einwand von ihr unbehandelt und keine Aussage von mir unbegründet. Doch komme ich nach wie vor nicht wirklich an sie ran. Prompt entschließe ich mich dazu, schweres Geschütz aufzufahren. Wenn ich nicht logisch-rational mit ihr weiterkomme, dann muss ich es auf theologischer Ebene versuchen.

Menschen, die eine solche Ideologie vertreten, sind oft nicht nur der Meinung, dass wählen per se ‘Haram’ sei (aus Gründen die bereits erläutert wurden), viel mehr sei es auch nicht erlaubt, in den Ländern des ‘Taghut’ zu leben.
Deshalb frage ich sie ganz ehrlich, ob sie sich vorstellen könnte nach Syrien zu fahren. Sie blickt mich entsetzt an und entgegnet sofort: “Oh mein Gott, nein bestimmt nicht, da werde ich wie eine Sklavin behandelt.. .die machen ur schlimme Sachen mit den Frauen.” Gott sei Dank, so weit war sie also noch nicht. Damit hatte ich aber den Boden für eine kurze Fragerunde aufbereitet. In früheren Interventionsgesprächen ist mir aufgefallen, dass gewisse Strömungen im Islam stets einen Hang dazu haben, immer die schärfsten und strengsten Auslegungen und Interpretationen islamischer Quellen heranzuziehen, in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. (Oft berufen sie sich dabei auf sogenannte ‘schwache’ Hadithe, das bedeutet, es handelt sich hierbei  um eine Überlieferung, deren Authentizität/Echtheit man anzweifelt, weil man die Überlieferungskette nicht nachverfolgen kann). Musik ist dafür ein Paradebeispiel. Hierfür wird stets derselbe, wohlgemerkt schwache Hadith herangezogen, um jegliche Form von Musik bzw. Instrumenten zu verbieten.
Bei meiner Fragerunde handelt es sich immer um eine Anreihung bestimmter Aussagen, die sich auf ganz unterschiedliche spezifische Themen beziehen. Richtig angewandt, eignen sie sich in Diskussionen gut dazu, meinem Gegenüber zu zeigen, dass ich genau weiß, was er/sie denkt und nicht etwa ein Laie hinsichtlich der vermeintlichen Gebote bin. Ich fange also an.

“Wählen ist Haram gell, weil man ja nicht jene unterstützen darf, die nicht mit Gottes Gesetz herrschen?” – “Ja”
“Mann muss Takfir auf die Ungläubigen machen, weil sie ja nicht an das glauben, woran wir glauben, richtig?” – “Ja”
“Musik ist auch Haram, oder?” (Dabei beziehe ich mich auf diesen einen Hadith, den sie – nicht überraschend – kennt). Jetzt fängt sie schon leicht zu schmunzeln an, kichert etwas und sagt dann auch wieder: “Ja, es gibt da diesen Hadith, dass denen, die Musik hören, Blei in die Ohren gegossen wird.”
Ich nicke und fahre fort: “Ja. und wer drei Tage am Stück nicht betet, der ist automatisch aus dem Islam ausgetreten stimmts?” – “Ja”. Sie muss lachen. Die anderen Mädchen in der Runde auch. Ich merke, dass sie vollkommen überrascht ist. Bis auf das erste Statement, hatte sie mir davon nichts erzählt. Mit allen anderen Statements ist sie in der muslimischen Community womöglich auf Widerstand gestoßen. “Wie konnte ich das alles wissen”, frage ich sie. “Weiß ich nicht”, sagt sie und kichert wieder.
“Weil du nicht die erste bist, die darauf reinfällt”, antworte ich und lehne mich zurück während ich mich darauf vorbereite, alle Aussagen, die sie bestätigt hat, theologisch zu widerlegen.

Ob mir das gelungen ist und was dann geschah, erfährt ihr im dritten und letzten Teil.

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