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Wandelbarkeit der islamrechtlichen Normen in Krisenzeiten

Die Entwicklung von islamrechtlichen Normen repräsentiert die Hauptaufgabe der islamischen Jurisprudenz, welche durch diese das muslimische Gesellschaftsleben gemäß dem islamischen Glauben zu regeln intendiert. Bei der Ermittlung dieser Normen spielt gleichzeitig die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Umstände eine wesentliche Rolle. Die entwickelten Normen repräsentieren zum einen die Ergebnisse, welche aus der Auslegung der heiligen Texte, Koran und Sunna, hervorgehen, wobei viele von ihnen nicht den Anspruch auf unbegrenzte Gültigkeit und Absolutheit erheben. Zum anderen gründen zahlreiche Normen, welche Fälle behandeln, die weder im Koran noch in der Sunna geregelt werden, auf kontextuell bedingten Quellen bzw. Methoden, wie dem Allgemeinwohl, dem Gewohnheitsrecht und der Billigkeitserwägung. Aufgrund dessen und im Zeichen der Wechselbeziehung zwischen dem islamischen Recht und den sozialen Herausforderungen ist die Mehrheit der Normen einem zeitlich und räumlich bedingten Wandel unterworfen.

Es lassen sich zwei Kategorien von Normenwandel unterscheiden, und zwar Wandel im Normal- und im Ausnahmezustand. Bei Erstem handelt es sich um einen durch die zeitliche und räumliche Veränderung herbeigeführten Gesellschaftswandel, der unter Normalbedingungen eintritt und somit eine Modifikation der allgemeingültigen Normen oder die Entwicklung neuer Normen, welche an die aktuellen Gegebenheiten angepasst sind, notwendig macht. Von dieser Art der Normenänderung sind insbesondere Fälle betroffen, welche weder vom Koran noch von der Sunna behandelt wurden, sowie jene, welche sich auf präsumtiv erwiesene Textbelege, oder Texte, welche diverse Deutungsmöglichkeiten erlauben, stützen. Hierbei geht es vor allem um Fragen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Hingegen gibt es konstante Normen, die auf einem eindeutigen Koranbeleg oder einem eindeutigen und definitiv erwiesenen Hadith beruhen sowie Fragen über die ein Konsens unter den muslimischen Gelehrten besteht. Bei dieser Kategorie handelt es sich um langfristige Normenveränderungen, die durch wiederum neue gesellschaftliche Anforderungen wiederum eine Änderung erfahren können und somit durch einen sich anschließenden Normenwandel abgelöst werden. Die zweite Kategorie bezieht sich auf eine temporäre bzw. kurzfristige Normenwandlung, die durch Ausnahmezustände, wie Notfälle und unerwartete Herausforderungen, hervorgerufen wird. So werden in Notfällen Abweichungen von Standardnormen erlaubt, z. B. der Verzehr von verbotenen Speisen, wenn man sich in einer Zwangslage befindet (Vgl. Q 2:173; 5:3; 6:145). Hinzu kommen Normenabweichungen in Form einer Erleichterung für Menschen unter erschwerten Bedingungen, z. B. die Zulässigkeit das Fasten im Ramadan nachzuholen, wann man krank oder auf Reise ist (Vgl. Q 2:185).  

Unter die zweite Kategorie fällt darüber hinaus der Normenwandel in Zeiten von Krisen, welche die ganze Gesellschaft betreffen. Hierzu gehören insbesondere Krisen, die eine der für den Frieden sowie die Sicherheit einer Gesellschaft unverzichtbaren Notwendigkeiten gefährden. Zu diesen unverzichtbaren Notwendigkeiten, welche als „Hauptziele der Scharia“ zusammengefasst werden, zählen u. a. die Bewahrung der Religion, des menschlichen Lebens und des Vermögens. Der mögliche Bereich des Normenwandels ist in solchen Fällen deutlich größer als im Normalzustand und kann sogar die konstanten Anbetungshandlungen einschließen. Im Zeichen dieser Normenwandelbarkeit setzten sich viele Fiqh-Organisationen, wie die Internationale Rechtsakademie der Organisation für islamische Zusammenarbeit und die islamische Weltliga in Saudi-Arabien, das Zentrum der Azhar für Fatwa in Ägypten, der European Council for Fatwa and Research in Irland sowie Fiqh Council of North America, mit der gegenwärtigen Pandemie Covid-19 auseinander. Von diesen Gremien wurden insbesondere die Auswirkungen dieser Pandemie auf die religiöse Praxis untersucht und diesbezüglich Rechtsgutachten sowie Resolutionen erstellt, welche von gewandelten Normen geprägt sind. Diesen Fatwas und Resolutionen liegen vornehmlich das Hauptziel der Scharia (die Bewahrung des menschlichen Lebens), das Erleichterungsprinzip sowie der Koranvers 2:195 zugrunde, wobei die Beratung mit Fachleuten bzw. Ärzten hervorgehoben wird. Ebenso werden anhand von Koranversen und Hadithen gewisse Vorsichtsmaßnahmen im Falle von Pandemien und Seuchen gerechtfertigt. In diesem Kontext wird der hohe Stellenwert von sorgsamer Hygiene in der islamischen Religion betont, welche der Prävention von Krankreiten im Allgemeinen und Infektionen in der aktuellen Pandemie dienlich ist. Aufgrund dieser Prinzipien wurden diverse Entscheidungen getroffen, zu welchen die Folgenden gehören: Das Freitagsgebet und die Tagesgebete dürfen aufgrund der gesundheitlichen Bedrohung durch Covid-19 nicht stattfinden und Moscheen sollen aus Sicherheitsgründen geschlossen werden; die Rechtmäßigkeit der Zahlung der Zakat vor deren Fälligkeit angesichts der aktuellen finanziellen Schäden dieser Pandemie, wie Lohnrückgang, Verlust von Arbeitsplätzen, Zunahme der medizinischen Versorgung usw. Ferner wurde beschlossen, dass die Pilgerfahrt unter Einschränkungen (was letztendlich auch der Fall war) stattfinden oder in diesem Jahr zur Vorsicht sogar völlig ausgesetzt werden sollte. Demgegenüber wurde das Fasten im Ramadan – nach Absprache mit Ärzten – weiterhin als verpflichtend erklärt.  

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