Scharia – das Erste was damit verbunden wird ist oft das islamische Recht. Stimmt das jedoch so? Woher das islamische Recht kommt, welche Bedeutung es im Laufe der Geschichte hatte und ob es mit der Scharia gleichzusetzen ist erfährt ihr in unserem Interview mit dem Islamwissenschaftler Dr. Rüdiger Lohlker.
CEAI: Ist die Scharia mit dem Islamischen Recht gleichzusetzen?
Dr. Lohlker: Im Verständnis der islamischen Rechtsgelehrten war die Scharia in ihrem vollem Umfang bei Gott. Das islamische Recht, hier dann: fiqh, war die Summe der Anstrengungen der Rechtsgelehrten, sich an das Verständnis dieser Scharia anzunähern. Das konnte naturgemäß nie vollkommen geschehen.
Die heutige Gleichsetzung von Scharia und islamischem Recht ist ein modernes Phänomen. Es hat sich im Rahmen der modernen Nationalstaaten entwickelt, für die die Scharia als Gegenstück zu anderen Rechtssystemen verstanden wurde. Spätestens seit den 1960er Jahren wurde ‚Scharia‘ auch zu einer politischen Parole („Anwendung der Scharia“) und weniger rechtlich verstanden.
CEAI: Leitet sich das islamische Recht vom Koran ab?
Dr. Lohlker: Nein. Der Koran ist kein Rechtsbuch. Das islamische Recht entwickelte sich im Kontext des Korans in der frühen islamischen Gemeinschaft. Bedeutsamer war die Überlieferung der ProphetengefährtInnen, andere bestehende Rechtsformen und auch Einflüsse von außerhalb der islamischen Welt.
CEAI: Was für eine Bedeutung hatte das islamische Recht in der Geschichte der Muslime?
Dr. Lohlker: Keine überragende Bedeutung (s. u.). Das islamische Gelehrtenrecht war häufig gerade in ländlichen Regionen, in denen die Mehrzahl der Menschen lebte, nicht in Anwendung. Dort waren Rechtsgewohnheiten sehr viel wichtiger. Dies gilt auch für Teilgebiete wie das internationale Recht des Handels.
CEAI: Gab es Unterschiede zwischen Theorie und Praxis?
Dr.Lohlker: Jein. Das islamische Gelehrtenrecht entwickelte sich in ständiger Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Praxisformen. Die Rechtsmethodik und ihre Literatur wurden in einem Prozess ständiger Abstraktion aus der Rechtspraxis entwickelt. Insofern konnte es zu Spannungen in der Rechtspraxis kommen, wenn ältere Rechtsmeinungen (vielleicht aus entfernteren Regionen der islamischen Welt) mit der Praxis konfligierten.
Die Rechtsgewohnheiten (s. o.) waren gelebte Praxis. Somit kam es weniger zu Theorie-Praxis-Unterschieden.
Die Meinung, islamisches Gelehrtenrecht sei rein theoretisch gewesen, beruht auf älterer und veralteteter Forschung.
CEAI: Was ist die zentrale Aufgabe des islamischen Rechtes?
Dr.Lohlker: Die Aufgabe aller Formen des Rechts ist die Organisation und Sicherstellung des Zusammenlebens von Menschen. Das hat das islamische Recht ebenfalls geleistet, wenn es auch nicht als Recht im modernen Sinne zu verstehen ist. Die Aufgabe wurde im Zusammenspiel von Gelehrtenrecht, Rechtsgewohnheiten, herrscherlichem Recht und Sonderrechten verschiedener Art erfüllt.
Sonstige Ergänzungen
Dr.Lohlker: Es sollte vermieden werden, das islamische Recht, insbesondere das Gelehrtenrecht, mit dem Islam gleichzusetzen – auch wenn es die Gelehrten gerne so gehabt hätten. Historisch waren in der islamischen Welt viele andere menschliche Praktiken und Weltsichten wichtiger als das islamische Recht.