CEAI

Meine, deine – oder keine Wahrheit

Monotheistischen Religionen wird manchmal unterstellt, dass sie nicht fähig seien, mit anderen auf Augenhöhe umzugehen. Grund sei eben, dass sie sich für die einzig richtigen halten und jeder für sich beanspruche, den wahren Gott anzubeten. Welche Aspekte bei solchen Aussagen jedoch bisschen übersehen werden, was Religionsfreiheit und Religionskritik verbindet und warum Lessings Ringparabel auch kritisch betrachtet werden kann erfahren wir von Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner.

Univ.-Prof. Dr. Ulrich Heinz Jürgen Körtner,  deutsch-österreichischer evangelischer Theologe und Medizinethiker

CEAI: Sind monotheistische Religionen nicht in ihrer Natur exklusivistisch? Sollte man einfach ganz auf den Wahrheitsanspruch verzichten?

Körtner: Monotheistische Religionen erheben einen exklusivistischen Wahrheitsanspruch, kennen aber auch Strategien eines wechselseitigen Inklusivismus, sofern man mit authentischen Gotteserfahrungen und dem Wirken des einen Gottes auch in anderen Religionen rechnet. Anzunehmen, dass Religionsfriede nur durch Preisgabe des je eigenen Wahrheitsanspruchs zu erreichen ist, verkennt das Wesen von Religion. Wer alle Religionen für gleich gültig hält, hält sie am Ende für gleichgültig. Darum leistet auch Lessings berühmte Ringparabel keineswegs einen weiterführenden Beitrag zum Problem interreligiöse Toleranz. Sie ist nämlich gar kein Ausdruck von echter Toleranz, sondern von religiöser Indifferenz, weil sie die Wahrheitsfrage von vornherein suspendiert und damit den jeweiligen Geltungsanspruch der verschiedenen Religionen gar nicht ernstnimmt. Folgerichtig wird Religion auf Moralität reduziert.

Sofern die Wahrheitsfrage aus dem interreligiösen Dialog nicht ausgeklammert wird, sind Wertungen unvermeidlich. Wer glaubt, es könne eine völlig neutrale Beschreibung von Religionen geben, irrt. Grundsätzlich gilt nämlich: Man kann nicht nicht werten. Entscheidend ist aber, aus welcher Grundhaltung man einander begegnet und den eigenen Standpunkt, d.h. nun aber eben auch die eigenen Wahrheitsüberzeugungen und die eigene Wahrheitsgewissheit formuliert. Eine Haltung des Respekts, der Anerkennung und der Toleranz setzt eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Glaubensüberzeugungen und Wahrheitsansprüchen voraus. Eben darin sehe ich die Aufgabe der Theologien. Sie dienen nicht etwa nur der Selbstvergewisserung der jeweiligen Religion oder Konfession, sondern der Selbstkritik, indem die eigenen Glaubensüberzeugungen auf einer wissenschaftlichen Metaebene zum Gegenstand kritischer Analyse und Reflexion erhoben wird.

Grundsätzlich kann man zwischen (1) der Wahrheitsfrage (Geltungsfrage), (2) der soteriologischen Frage nach dem Verhältnis der Heils- und Erlösungsansprüche der Religionen zueinander und (3) der sozialethischen Frage der Toleranz unterscheiden. Der Zweck eines interreligiösen Dialogs ist zunächst und vor allem sozialethisch zu bestimmen. Die Religionsgemeinschaften sind aufgefordert, ihren Beitrag für ein friedliches Zusammenleben in der modernen Gesellschaft zu leisten In einer multikulturellen, multireligiösen und demokratisch verfassten Gesellschaft stellt sich die bedrängende Frage, welche Institutionen, Regeln und Werte das Zusammenleben der Menschen ermöglichen. Zum christlichen Verständnis des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft gehört die Unterscheidung von Religion und politischem Gemeinwesen, andererseits die religiöse Verpflichtung, das Gemeinwohl zu befördern, gemäß der biblischen Mahnung aus Jer 29,7, der Stadt Bestes zu suchen. Weil die Welt als Schöpfung Gottes bejaht wird, gilt es den Frieden zu fördern, und das heißt eben auch das friedliche Miteinander der Konfessionen und Religionen. Darin liegt für mich die entscheidende Motivation zu einem Dialog der Religionen.

CEAI: Wie weit gehen Religionsfreiheit bzw. Religionstoleranz und wo zieht man Grenzen?

Körtner: Die Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit und die weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaates sind eine Frucht der neuzeitlichen Geschichte Europas und Nordamerikas. Im säkularen Recht bilden die Grundrechte auf der Grundlage der allgemeinen Menschrechte einen allgemein anerkannten Rechtsrahmen. Dazu gehört das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dasselbe gilt für das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und den Schutz vor Diskriminierung (vgl. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966). Die Grundrechte gewährleisten in den europäischen Gesellschaften Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung. Jeglichen Bestrebungen, die Geltung der Grundrechte aus religiösen Gründen einzuschränken, gilt es zu widerstehen.

Von den einzelnen Bürgern ist die Achtung der Rechtsordnung zu fordern, also auch der Religionsfreiheit aller Bürger. Respekt vor Andersdenkenden und Andersgläubigen bedeutet aber auf der Ebene der Individuen nicht, dass mir keineswegs heilig sein muss, was einem anderen heilig ist. Die eigene Religionsfreiheit findet an der Religionsfreiheit der anderen ihre Grenze, wie überhaupt die Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit – die positive wie die negative und die korporative – nicht absolut gesetzt werden darf, sondern im Einzelfall gegen andere Menschen- und Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst abzuwägen ist.

Wie die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 2006 anlässlich des sogenannten Karikaturenstreits, der sich an der Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen entzündet hatte, erklärt hat, schließt Religionsfreiheit „das Recht auf öffentliches Bekenntnis und öffentliche Ausübung der Religion ebenso ein wie das Recht auf Religionskritik. Viele Religionen sind aufgrund neuer theologischer Einsichten aus der kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Religionen hervorgegangen. Das gilt für das Christentum ebenso wie für den Islam. Insbesondere die Kirchen der Reformation sind aus einer religiösen Freiheitsbewegung und aus der Kritik an bestehenden kirchlichen Verhältnissen und Lehren hervorgegangen. Deshalb hat das Recht auf freie Meinungsäußerung in unseren Kirchen einen besonderen Stellenwert. Der Anspruch der Religionen, in der Öffentlichkeit an anderen Religionen oder gesellschaftlichen Verhältnissen Kritik üben zu dürfen, muss die Bereitschaft, sich selbst mit allen zulässigen Mitteln der freien Meinungsäußerung infrage stellen zu lassen, einschließen. Eine Religion, welche sich selbst gegen jede Kritik verwahrt und immunisiert, ist totalitär. Sie missachtet letztlich die Differenz zwischen sich selbst und ihrem transzendenten Grund, zwischen Gott selbst und dem ihn bezeugenden Glauben.“[1]

Wie die Religionsfreiheit gelten freilich auch Meinungsfreiheit, die Freiheit der Medien und der Kunst nicht uneingeschränkt. Im Rahmen der staatlichen Grundrechte finden sie ihre Grenzen, wo sie zur Herabwürdigung von Menschen und zu ihrer Diskriminierung missbraucht werden. Wie jede Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft, die unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit oder der Freiheit der Kunst geschieht, sind freilich auch alle Versuche zurückzuweisen, die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung und der Kunst durch eine missbräuchliche Berufung auf den Schutz des religiösen Bekenntnisses auszuhöhlen.

CEAI: In welcher Beziehung müssen/können/sollen Theologie und Politik zueinanderstehen, dass man immer noch von einer säkularen Gesellschaft sprechen kann?

Körtner: Ob man die Gesellschaften Europas insgesamt als säkular oder besser als postsäkular bezeichnen soll, wie es Jürgen Habermas tut, sei dahingestellt. Säkularisierung bedeutet meines Erachtens nicht zwingend, dass Religion in einer Gesellschaft völlig privatisiert oder marginalisiert ist. Im Anschluss an Niklas Luhmann lässt sich unter Säkularisierung zunächst eine funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft verstehen, die zur Folge hat, dass die Religion – im Fall der europäischen Gesellschaften das Christentum – nicht mehr das soziale System ist, das alle anderen integriert. Sie kann aber als gesellschaftliches System neben anderen fortbestehen. Religionstheoretisch sollte man sich auch vor der Alternative zwischen Säkularisierungs- und Pluralisierungsparadigma hüten. Pluralisierung und Säkularisierung schließen einander nicht aus.

Religion ist nicht einfach in die Privatsphäre zu verbannen. Sie kennt öffentliche Ausdrucksformen, das ist im Sinne der Religionsausübungsfreiheit auch gesetzlich garantiert. Kirchen, Synagogen und Moscheen sind der architektonische Ausdruck dieses Öffentlichkeitsbezugs von Religion. Auch gibt es das caritative Engagement der Religionsgemeinschaften – Krankenhäuser, Pflegeheime, Armen- und Obdachlosenhilfe – Einrichtungen, ohne die die soziale Temperatur in der Gesellschaft absinken würde. Schließlich gibt es religiöse Bildungsangebote, die immer auch das Politische tangieren und solange unproblematisch sind, als sie die Unterscheidung zwischen geistlicher und säkularer Sphäre respektieren. Allerdings muss Religion zuerst einmal Religion sein, bevor sie politisch wird.

Auf die Gemengelage von Religion im öffentlichen Raum reagieren im Christentum unterschiedliche Konzeptionen einer Öffentlichen Theologie. In der internationalen Debatte überschneiden sich verschiedene Diskurse wie derjenige über den Begriff der Zivilreligion oder derjenige über Begriff und Konzeptionen einer politischen Theologie. Aber auch der Diskurs über kontextuelle Theologien und die verschiedenen Spielarten einer Theologie der Befreiung findet in der Debatte zur Öffentlichen Theologie seine Fortsetzung.

Aufgabe und Gegenstand Öffentlicher Theologie sind, wie Florian Höhne zusammenfasst, die sozialethische Frage nach der öffentlichen Geltung partikularer religiöser Orientierungen, die fundamentaltheologische Frage nach der öffentlichen Kommunizierbarkeit derartiger Geltungsansprüche und ihrer Begründungen sowie schließlich die ekklesiologische Frage nach der Rolle der Kirche in den genannten Kommunikationsprozessen. Es wäre höchst wünschenswert, wenn in Europa neben christlichen und jüdischen Stimmen auch eine islamische Form von Öffentlicher Theologie entstünde, eingebettet in den akademischen Diskurs und zugleich verankert in der islamischen Community.

Eine solche Form von Öffentlicher Theologie ist vom Politischen Islam zu unterscheiden, wie ihn die österreichische Dokumentationsstelle Politischer Islam definiert. Demnach handelt es sich um „eine Gesellschafts- und Herrschaftsideologie, die die Umgestaltung bzw. Beeinflussung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von solchen Werten und Normen anstrebt, die von deren Verfechtern als islamisch angesehen werden, die aber im Widerspruch zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten stehen“[2]. Dass die genannte Einrichtung von unterschiedlicher Seite kritisiert wird, ändert nichts daran, dass der Terminus Politischer Islam wissenschaftlich etabliert und international verwendet wird. Öffentliche Theologie ist jedenfalls ein Kontrastprogramm zur politischen Instrumentalisierung von Religion als Herrschaftsideologie. Es ist gut und wünschenswert, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft die verschiedenen Religionsgemeinschaften am politischen Diskurs beteiligen sollten, weil auch ein säkularer Staat auf das Engagement aller seiner Bürger angewiesen ist.

Er bleibt dennoch ein säkularer, weltanschaulich neutraler Staat. Das bedeutet, wie der Jurist Horst Dreier in einem FAZ-Gastbeitrag vom 21.12.2016[3] ausgeführt hat: In der realen Demokratie „schulden politisch aktive Bürger einander im Grunde gar nichts. Es ist ihr gutes Recht ihre womöglich noch so bornierten Interessen völlig diskusfrei zu vertreten und zu verfolgen. Rechtssetzung ist im Wesentlichen Produkt von politischem Wettbewerb und Mehrheitsentscheidungen. Der Demokratie wohnt unweigerlich ein dezisionistisches Element inne. Pointiert gesagt: Die guten Gründe, die die politische Philosophie fordert, sind die demokratischen Mehrheiten, die für ihre Entscheidungen keine weiteren vorbringen müssen. Demokratie beruht auf Mehrheit, nicht auf Wahrheit.“

Bei der Gesetzgebung kommt es auf die Begründbarkeit, nicht jedoch auf die reale Begründung oder Nichtbegründung an. Ob jemand aus religiösen oder anderen Gründen einem Gesetz zustimmt, hat den Staat nicht zu interessieren. „Die für alle geltenden Gesetze müssen allerdings so beschaffen sein, dass sie nicht bestimmte Glaubenssätze einer Religion oder Weltanschauung voraussetzen oder allein zu deren Durchsetzung dienen.“

Weltanschauliche Neutralität des Staates, so Dreier, kann sich nur auf Begründungsneutralität, nicht auf Ergebnisneutralität beziehen. Sie ist keine verfassungsrechtliche Meta- oder Übernorm, an der andere Regelungen und Garantien etwa des deutschen Grundgesetzes zu messen wären. „Der freiheitliche Verfassungsstaat kann und will […] keine Gewissheitsaussagen über – im wahrsten Sinne des Wortes – Gott und die Welt treffen. Er ist keine sinnstiftende Instanz.“ Ich stimme Heiner Bielefeldt, Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, zu: „Der Staat ist weder Heilsinstrument noch Instanz einer umfassenden Sinnorientierung noch auch Richter über letzte Wahrheitsansprüche.“[4] Das bedeutet: „An die Stelle der traditionellen Sorge für die Wahrheit der Religion (bzw. für die korrekte Durchführung religiöse Gebote) tritt der Einsatz des Staates für die Freiheit der Menschen in Fragen des Bekenntnisses und der religiösen Praxis.“[5] (Bielefeldt, S. 25).



[1]     „Nicht mit Gewalt, sondern allein mit dem Wort ist für die Wahrheit zu streiten“. Stellungnahme des Exekutivausschusses der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa zum Thema Religions- und Meinungsfreiheit (2006), 1f. (Text online unter https://studylibde.com/doc/16661610/nicht-mit-gewalt–sondern-allein-mit-dem-wort-f%C3%BCr-die-wah…   [letzter Zugriff am 14.3.2021]).

[2]     Zitiert nach: Der Politische Islam als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und am Beispiel der Muslimbruderschaft. Grundlagenpapier der Dokumentationsstelle Politischer Islam. In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Mouhanad Khorchide und Dr. Lorezon Vidino, Wien Dezember 2020, 3.

[3]     Horst. Dreier, Staat und Religion: Unter dem Kreuz?, http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/staat-und-religion-unter-dem-kreuz-14569781.html (letzter Zugriff am 1.2.2018). Alle Zitate dort.

[4]     Heiner Bielefeldt, Religionsfreiheit. Ein sperriges Menschenrecht, in: Marianne Heimbach-Steins/Heiner Bielefeldt (Hg.), Religionen und Religionsfreiheit. Menschenrechtliche Perspektiven im Spannungsfeld von Mission und Konversion, Würzburg 2010, S. 19–35, hier S. 26..

[5]     Bielefeldt, a.a.O. (Anm. 4), S. 25.

Leave a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Share This