“Eine durch Krankheit oder Behinderung in Not geratene Person kann immer auf den Schutz der islamischen Gemeinschaft zählen!”
Frau Kilic, nach Ihren Erfahrungen als Sonderpädagogin, wie groß ist die Aufmerksamkeit in der muslimischen Gemeinschaft gegenüber behinderten SchülerInnen?
Während meiner fünfjährigen Tätigkeit als Religionspädagogin im Sonderpädagogischen Zentrum in Wien habe ich die Erfahrung gemacht, dass es vielen Eltern an Informationen und Hintergrundwissen über den Umgang mit der Behinderung ihres Kindes fehlt. Eltern fühlen sich in pädagogischer Hinsicht oft alleine gelassen und überfordert. Deshalb beschäftigte ich mich in meiner Masterarbeit vor allem mit der Frage, wie türkischstämmige Familien mit behinderten Kindern in Wien mit dieser Tatsache umgehen. Vor dem Hintergrund, dass die meisten Familien eine traditionelle türkisch-kulturelle Prägung beibehalten haben, ließ sich erkennen, dass behinderte Personen in der Gesellschaft nicht als „vollkommen“ betrachtet werden. Sie werden zwar nicht ausgeschlossen, doch überlässt man ihnen sehr wenig Selbstständigkeit, um sich tatsächlich entfalten zu können. Darüber hinaus ist eine spezifische Auseinandersetzung mit der Beeinträchtigung kaum vorhanden und die gesellschaftliche Annährung findet eher auf der emotionalen Ebene statt, in dem man den Betroffenen Mitleid entgegenbringt.
Wie wird generell im Islam mit der „Behinderung“ von Menschen bzw behinderten Kindern umgegangen?
Zunächst muss berücksichtigt werden, dass diese Frage aufgrund unterschiedlicher theologischer Ansätze keine einheitliche Antwort zulässt, wie “der Islam” mit Behinderung beziehungsweise mit behinderten Menschen umgeht. Der Islam wird von MuslimInnen gelebt und praktiziert, sodass stets auf die gegenwärtigen Situationen und auf die möglichen Maßnahmen abgezielt werden muss. Nur so kann man die unterschiedlichen Dimensionen des praktischen Umgangs mit Behinderung innerhalb muslimisch geprägter Räume und deren sozialen Lebenswirklichkeiten erfassen.
Ganz allgemein aber wird eine Behinderung oder Krankheit als eine diesseitige Prüfung von Gott betrachtet, die nicht direkt für die jeweilige erkrankte oder behinderte Person bestimmt ist, sondern für seine Bezugspersonen. Diese Prüfungen ermöglichen ihnen, das Paradies zu erlangen und für die aufgebrachte Hilfe und Geduld im Jenseits belohnt zu werden. Dahinter steht der ethische Gedanke der Fürsorge, die betroffenen Menschen nicht mit ihren Schicksalen alleine zu lassen. In der Praxis wird sie durch die Gemeinschaft, allen voran von den eigenen Familienmitgliedern ausgeübt, da ein Leitgedanke der islamischen Soziallehre auf dem sehr effektiven Grundgedanken basiert, dass zum Beispiel eine durch Krankheit oder Behinderung in Not geratene Person immer auf den Schutz der islamischen Gemeinschaft zählen kann.
Ein solcher Schutz kann auch eine therapeutische Behandlung mit sich bringen. Diesbezüglich kann auf frühere islamisch geprägte Kulturen verwiesen werden, die zur Behandlung sowohl Koranrezitationen als auch entsprechende Musik verwendeten. Eine Behandlung muss aber nicht traditionell erfolgen, sie kann auch durch innovative Medizintechnik erfolgen, solange sie zu heilenden oder erleichternden Kräften führt. Denn auch die medizinischen Mittel sind eine Unterstützung Gottes, denn Er ist der Heiler.
Bestimmt wird es auch in muslimischen Kreisen manche Eltern geben, die ihre behinderten Kinder von der Außenwelt isolieren. Was sagen Sie diesen Eltern?
Nach grundsätzlichen islamisch-ethischen Vorstellungen und dem muslimischen Selbstverständnis ist eine Separation oder Isolierung behinderter Menschen von ihrer Umwelt bzw sozialen Umgebung bis auf wenige Ausnahmen nicht vorgesehen.
Welche Ausnahme erlaubt beispielsweise eine Separation oder Isolierung?
Etwa, wenn Menschen an derart schweren Behinderungen leiden, dass sie zu unkontrollierten Aggressionen oder gar zur Gewalt bereit sind. In diesen Ausnahmefällen darf zum eigenen Schutz und zum Schutz anderer das Leben des betroffenen Behinderten eingeschränkt werden.
Können behinderte Kinder den Status als “Mukallaf”, also den Status der religiösen Reife, erlangen?
Mukallaf bedeutet, dass jeder Mensch, der geschlechtsreif und zurechnungsfähig ist, die islamische Botschaft kennengelernt hat und imstande ist bzw. die Eignung besitzt, Gottes Worte aufzunehmen und zu befolgen. Deshalb gelten weder Kinder noch Unzurechnungsfähige, noch Schlafende oder geistig Behinderte als Mukallaf. Wenn diese Kriterien bei einer Person nicht vorhanden sind, ist er kein Mukallaf und an seine Pflichten als Muslim nicht gebunden.
Viele gläubige Muslime möchten selbst im Krankheitsfall, geschwächt und kraftlos, das Möglichste leisten, weil sie sich gerade in diesem Zustand näher zu Gott fühlen. Immerhin sind von den Gläubigen die vorgeschriebenen religiösen Pflichten zu erfüllen. Diese können aber durch eine Behinderung bzw Krankheit und der resultierenden Undurchführbarkeit wegfallen. Denn ein Grundsatz im Islam lautet, dass der Mensch nichts leisten muss, was er nicht leisten kann; aber was der Mensch leisten kann, wird von ihm verlangt.
Wer ist dann letztendlich für die behinderte Person verantwortlich, wenn nicht sie selbst?
Wie erwähnt, wird im Islam erwartet, dass sowohl den – geistig als auch den körperlich – behinderten Menschen geholfen wird. Hier hat aus islamischer Perspektive der Sachwalter eine wichtige Aufgabe, denn er ist verantwortlich für die jeweilige Person und deren Vermögen. In den allermeisten Fällen wird es sich dabei um die Eltern bzw um nahe Verwandte handeln.
Jedenfalls ist diese Aufgabe in bester Form zu erledigen, wie es auch in Koransure 2 Vers 282 steht. Im folgenden Vers, der sich im Konkreten auf die Verschriftlichung von Schuldverschreibungen bezieht, wird die Behinderung mit dem arabischen Wort „ḍa’îf“ (pl. ḍu’afâ‘) ausgedrückt, das übersetzt „körperlich schwach“ bedeutet, oder hinsichtlich „șafih“ mit „schwach im Geist“ übersetzt wird.
„Und wenn derjenige, gegen den das Recht besteht, schwachsinnig oder hilflos ist oder nicht selbst zu diktieren vermag, so soll sein Sachverwalter (der vom Richter beauftragt wird oder vom Gericht zugeteilt wird) der Gerechtigkeit gemäß diktieren“ (Koran 2:282).
Frau Kilic, auf welche Herausforderungen stoßen Sie als Sonderpädagogin mit Ihren SchülerInnen?
Je nach dem Beeinträchtigungsgrad des Kindes ergeben sich unterschiedliche Herausforderungen, denn die Alltagssituation jedes einzelnen Kindes ist abhängig von der Umwelt, in der es sich befindet. Da die Wahrnehmung bei einem behinderten Kind viel sensibler als bei einem „normalen“ Kind geprägt sein kann, ist die Kommunikation und die Vermittlung eine besondere Herausforderung. Es braucht Zeit bis man einen Schüler bzw eine Schülerin kennenlernt. Hier ist nicht nur der Umgang mit den SchülerInnen im Unterricht gemeint, der eine eingehende Vorbereitung unter Berücksichtigung jedes einzelnen Schülers bedarf. Auch die medizinische Erkrankung der Schüler ist sehr wichtig, damit im Fall des Falles keine Verzögerungen entstehen und bei einem Notfall die richtigen Schritte eingeleitet werden können.
Wie viel Religion ist den Kindern in ihrer individuellen Beeinträchtigung näher zu bringen bzw. zuzumuten, wenn sie nicht “Mukallaf” sind?
Der Islam lehrt Respekt und Barmherzigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen und gleichzeitig fordert und fördert er eine Gesellschaftsform, in welcher verwirklicht wird, dass Menschen mit Behinderungen gemäß ihren Bedürfnissen unterstützt werden und gemäß ihren Fähigkeiten am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Es geht hierbei nicht nur um die religiösen Inhalte, die vermittelt werden sollen, sondern es geht auch um die Moral- und Wertevermittlung. Hier besteht also eine Grundlage für die seelische Unterstützung, die durch die Religion gegeben ist und auch gefordert wird.
Welche Ziele und Leitlinien verfolgt der sonderpädagogische Islamunterricht?
Gemäß Schulgesetz findet die Förderung der SchülerInnen individuell statt; sie erfolgt in der bestmöglichen Art und Weise, um die Schüler in die Gesellschaft zu integrieren. Hier soll nochmals hervorgehoben werden, dass jedes Kind seine Kultur, Sozialisierung, Religion, Charakterzüge und weitere Eigenschaften mitbringt. Diese interkulturelle Vielfalt zu sehen und dies als eine Bereicherung für die anderen Mitschüler zu gewinnen, wäre demnach die richtige Einstellung einer Lehrperson.
Im Bildungswesen wird primär auf „das Kind“ abgestellt; es wird sowohl seitens der Schule als auch seitens der Eltern versucht, das Beste für die Förderung des Kindes durchzusetzen. Wenn im Falle einer Zusammenarbeit die Ziele beider Parteien dieselben sind, lässt sich auch eine Lösung für das behinderte Kind finden. Damit für alle Beteiligten die besten Ergebnisse erreicht werden können, ist eine Zusammenarbeit vonnöten, die durch eine vorurteilslose und aufgeschlossene Befassung mit der gegebenen Situation geprägt sein soll. Auch in meiner Masterarbeit konnte ich aufzeigen, dass eine Vertrauensbasis zwischen den betroffenen Familien und den Schulen dann entstehen kann, wenn der kulturelle und religiöse Hintergrund der Familien respektiert wird. Auf dieser Basis kann man vieles leichter erreichen.
Was wünschen Sie sich von Seiten der Gesellschaft, der Eltern, der muslimischen Community, der Politik, um diese Kinder noch besser betreuen und unterrichten zu können?
Nach meinen Recherchen im Bereich der Behinderung und den Praxiserfahrungen sind zwar die Theorien vorhanden, aber leider fehlt die praktische Umsetzung beziehungsweise die Transferarbeit in die Praxis. Beispielsweise erschweren Sprachdefizite bzw -barrieren eines Großteils der Migrantenfamilien die Arbeit der Pädagogen und Pädagoginnen in den Schulen. Meiner Ansicht nach sollten bei den Übersetzungen keine Familienmitglieder oder Freunde hinzugezogen werden. Die Übersetzungsarbeit soll von einer kompetenten Person durchgeführt werden, vor allem im medizinischen Bereich. Im Bildungswesen sollte die Übersetzungsarbeit von PädagogInnen durchgeführt werden. Hier ist auch zu beachten, dass der Zeitaufwand bei der Übersetzung sehr groß ist und eine Abgeltung der zusätzlichen Zeiten nur fair wäre, vor allem, wenn es mehrere Kinder betrifft.
Weiters sollten Eltern verstärkt auf ihre Rechte und Pflichten hingewiesen werden und Unterstützung im Bereich der Behinderung ihres Kindes erhalten. Dabei soll beachtet werden, dass bei Behinderungen und Krankheiten traditionelle und religiöse Handlungsweisen einen großen Einfluss auf die betroffenen Menschen haben. Speziell Migrantenfamilien benötigen eine intensive und detaillierte Aufklärung, weil ihnen zum Teil die gegebenen Situationen fremd sind. Wünschenswert wäre eine intensivere und kontinuierlichere Elternarbeit mit den Migrantenfamilien mit behinderten Kindern. Im Allgemeinen sollen die Strukturen angepasst werden, denn durch die Einbeziehung der Eltern sind die individuellen Förderschwerpunkte jedes behinderten Kindes leichter zu finden. Für die Integration behinderter muslimischer Kinder in die Klasse soll auch zusätzlich auf die kulturellen, religiösen und sozialen Aspekte der Kinder eingegangen werden, da etwa eine islamische Sicht auf die Behinderung helfen kann, mit der jeweiligen Situation angemessen und gezielt umzugehen.
CEAI bedankt sich recht herzlich für das Interview!