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Warum er radikal wurde

Wie kommt es, dass Menschen mit dem Islamischen Staat sympathisieren? Was bewegt jemanden dazu, eine radikale Bahn einzuschlagen? Und wie bekommt man da Menschen wieder raus?

Evrim Ersan-Akkilic, Soziologin und Mitautorin vom Buch “Islamistische Radikalisierung”, hat uns zu Antworten verholfen.

Evrim Ersan-Akkilic, Soziologin

Zur Studie: Im Rahmen der Studie „Islamistische Radikalisierung: Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu“, haben Ednan Aslan, Evrim Ersan Akkilic und Maximilian Hämmerle von 2016-2018 Interviews mit Gefängnisinsassen geführt und diese ausgewertet.

In Auftrag gegeben wurde die Studie  von dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) und dem Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten (BMEIA). Insgesamt haben sie 26 Interviews in Gefängnissen in Österreich durchgeführt. 15 davon waren mit Männern, die aufgrund terroristischer Straftaten im Zusammenhang mit Dschihadismus verurteilt worden waren. Alle hatten Migrationsgeschichte, waren zwischen 16 und 50 Jahre alt und vier Personen hatten davor einen kriminellen Hintergrund. Im Zeitraum der Feldforschung zwischen Februar und Mai 2016 saßen 37 Männer und zwei Frauen wegen § 278b StGB1 in Haftanstalten.

CEAI: Wie seid ihr zu euren Interviewpartnern gekommen?

Dr.in Ersan-Akkilic: Wir haben unsere Interviewpartner (wir haben ausschließlich Männer interviewt) im damaligen Kontext in Gefängnissen ausgesucht, in denen diese wegen dem Gesetz § 278b StGB1 verurteilt waren. Die erste Kontaktaufnahme erfolgte durch die Beamten der Justizanstalten. Im Vorfeld wurden Justizanstalten besucht und die Studie der jeweiligen Leitung vorgestellt. Insgesamt fanden die Interviews in elf verschiedenen Justizanstalten in Österreich statt. Die Beteiligung an der Studie basierte auf Freiwilligkeit.

CEAI: Was hatten viele Interviewpartner gemeinsam?

Dr.in Ersan-Akkilic: Bevor ich die Frage beantworte will ich die Methode der Studie kurz darstellen, damit es auch anschaulicher ist, wie wir die Analyse gemacht haben und zu gewissen Ergebnissen gekommen sind. Wir haben mit einer biografischen Methode gearbeitet. Die durchgeführten biografisch-narrativen Interviews, die durchschnittlich von 1 bis 3 Stunden gedauert haben, wurden zuerst grob analysiert. Von diesen Fällen haben wir drei Fälle für die extensive Fallrekonstruktion ausgesucht. Darauffolgend wurden drei Typen gebildet. Ausgehend von den drei Typen haben wir auch die Vergleiche gemacht.

Als Gemeinsamkeit könnte man den Migrationshintergrund und das Geschlecht nennen. Sie kommen von sozialbenachteiligten Gruppen. Alle haben sich in einem radikalen Milieu bewegt, auch Moscheen besucht, die damals als salafistische Moscheen bekannt waren und dort haben sie sich mit einer bestimmten Theologie auseinandergesetzt. Alle kommen von muslimischen Elternhäusern, aber die religiöse Sozialisation, die sie in der Familie durchgelaufen haben, unterscheidet sich von Fall zu Fall.

CEAI: Waren die Interviewpartner religiös gebildet?

Dr.in Ersan-Akkilic: Ich will die Frage ausgehend von unseren Fallrekonstruktionen ausführlich beantworten, die wir Givi, Ismail und Seyidhan nannten. Alle Namen in der Studie wurden anonymisiert.   Givi, der mit 16 Jahren nach Österreich flüchtete, wuchs in seinem Herkunftsland in einer muslimischen Familie auf, die den Islam praktizierte. Er besuchte als Kind in seinem Herkunftsland auch Korankurse. Givi schreibt den Koranschulen in seiner Biografie keine große Bedeutung zu. Einerseits konstituierten für ihn diese Korankurse seinen Alltag, da alle Freunde im Sommer Korankurse besuchten. Andererseits hatte die Religion in einem muslimischen Land für ihn als Kind keine identitätsstiftende Rolle. Nach der Flucht nach Österreich aber gewann die Religion immer mehr an Bedeutung für Givi, die nicht mehr, wie in seinem Herkunftsland, zur Normalität gehörte. In einem nicht muslimischen Land entdeckte Givi die Religion – sowohl als einen identitätsstiftenden als auch als einen identitätsregulierenden Apparat. Er durchlief aber eine Suchphase, indem er sich von der Lehre als auch von einer religiösen Gruppe überzeugen ließ. Die Phase begann mit einem Wissensdurst. Er besuchte gleichzeitig zwei Korankurse, einen für Kinder und einen für Erwachsene, damit er möglichst schnell, die seiner Meinung nach vorhandene, Wissenslücke schließen und sein Wissen über seine Religion stärken konnte. Eine Diskussion, die er in dieser Moschee mit dem Imam hatte, stellte einen Wendepunkt in seiner religiösen Sozialisation dar. Nach der Diskussion verließ Givi die Moschee, weil ihn der Imam mit seinen Argumenten nicht überzeugen konnte und suchte für sich eine andere Moschee. Die neue Moschee stellte dann den Ort dar, wo er seine islamische Erziehung durchlief. Die Vorträge, die Diskussionen und Bücher, die er dort besuchte bzw. bekam, prägten sein theologisches Wissen.

Einen anderen Zugang hatte Ismail, der im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Österreich floh. Ismail bewegte sich im kriminellen Milieu und wurde als Teenager wegen Raub verhaftet, wodurch er sich einen Gefängnisaufenthalt verantworten musste. Die Religion fungierte bei Ismail als neuer Anfang und Kompensierungsapparat für den gescheiterten Lebensentwurf. Sein Interesse an Religion begann in einem anderen Setting, nämlich im Gefängnis. Obwohl er aus einer muslimischen Familie kam, erhielt er keine systematische islamische Erziehung. Als er zum ersten Mal ins Gefängnis gehen musste, kam er durch einen Mithäftling mit der Religion in Berührung, der ihn über den Islam aufklärte. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, stellte er fest, dass auch sein Freundeskreis den Islam für sich entdeckt hatte. Er begann in unterschiedliche salafistische Moscheen zu gehen und ihre Vorträge zu besuchen. Als er erneut verhaftet wurde, dieses Mal wegen dem Paragraf§ 278b-f StGB, hatte er noch immer kein fundiertes Wissen über den Islam, versuchte aber sich auch im Gefängnis weiterzubilden.

Seyidhan, der im Alter von über 20 durch Heirat nach Österreich kam, hatte wiederum einen ganz anderen Weg zur Religion. Er hatte seine religiöse Sozialisation in der Türkei und, im Gegensatz zu Givi und Ismail, bestimmte die Familie seine religiöse Sozialisationslaufbahn, indem sie ihn in eine madrasa schickten. Da er die Entscheidung nicht selbst getroffen und die islamische Erziehung in dieser madrasa nicht in Frage gestellt hatte, ist es nicht möglich, eine religiöse Suche in seiner Biographie zu konstatieren, die von ihm selbst gesteuert wurde. Seine Erziehung in dieser madrasa bestimmt seine religiösen Überzeugungen bis zum heutigen Tag. Er begann sie bereits im Alter von zwölf Jahren, mit seinem Eintritt in die besagte madrasa, zu verinnerlichen. Es gibt keinen bestimmten Wendepunkt in seiner Biografie, der ihn zur Radikalisation führte, wie bei den anderen zwei Fällen. Sondern ein Kontinuum, das mit seinem madrasa Eintritt anfängt und sein Religionsverständnis prägt, in seinem Fall, den Radikalisierungsverlauf. Deswegen suchte er, als er nach Wien migrierte, um es mit seinen Worten zu sagen „diejenigen die daʿwa arbeit (Spezifisch wird darunter der Aufruf zum Islam, im Sinne von Missionierungsarbeit verstanden) betreiben“. Sein Eingang in dem radikalen Milieu in Wien geschieht durch seine eigene Entscheidung.

CEAI: Was waren die Hauptgründe für Radikalisierung?

Dr.in Ersan-Akkilic: Die Frage glaube ich habe ich schon mit der vorherigen Frage beantwortet. Aber natürlich sollte man hinzufügen, dass die damaligen Erfolge und die mediale Darstellung des IS und die Diskriminierungserfahrungen bei der Radikalisierung von viele Interviewpartnern eine zentrale Rolle spielten. Nicht nur die erlebten Diskriminierungen spielen aber eine Rolle, sondern auch perceived deprivation und perceived injustice.

Also die empfundene Benachteiligung und Ungerechtigkeit als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe, hier als Mitglied muslimischer Gruppe, die kollektiv benachteiligt und unterdrückt ist, spielen bei den Radikalisierungsprozessen eine bedeutende Rolle.

Die extremistischen Gruppierungen operieren sehr gut mit diesen Diskursen, nicht nur auf lokale sondern auch auf eine transnationale Ebene. Mit dem Eintritt in dieses Milieu findet eine intensive Indoktrination statt. In unserer Studie wurden die Strukturen, in denen eine derartige Indoktrination von statten geht, als radikales Milieu bezeichnet. Die Knotenpunkte in diesem radikalen Milieu sind bestimmte Moscheen, in denen die jeweiligen Ideen und Doktrinen zirkulieren und vermittelt werden. Dabei spielen insbesondere bestimmte charismatische religiöse Autoritäten eine zentrale Rolle, die für die Anhänger dieser Moscheen nicht nur als Wissensvermittler von Doktrinen, sondern auch als ein Vorbild für Handlungsorientierungen fungieren.

CEAI: Wie kann man Radikalisierung vorbeugen und/oder ihr entgegenwirken?

Dr.in Ersan-Akkilic: Da die Radikalisierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet und auch unterschiedliche Gründe hat, müssen die Lösungsvorschläge auch auf unterschiedlichen Ebenen angeboten werden. Kurz zusammengefasst: politische Bildung, Community-Arbeit, Bildungsangebote, theologische Angebote und präventive Arbeit sind Möglichkeiten, die gegen Radikalisierung angeboten werden können.

Beispielsweise fehlt eine umfassende Auseinandersetzung mit der Religion in vielen Arbeitsfeldern der Prävention und Deradikalisierung. Diese Auseinandersetzung ist jedoch erforderlich, um die Wirkung dieser spezifischen Theologie auf Individuen in die Präventionsarbeit mit einbeziehen zu können. Religiöse Quellen, die als Legitimationsgrundlage für Gewalt dienen, müssen hinsichtlich ihrer Wirkung in der heutigen Zeit kritisch beleuchtet werden. Insbesondere sollte die Zusammenarbeit mit muslimischen Akteur*Innen und der muslimischen Community erweitert werden. Dabei kann ein Austausch zwischen muslimischen Organisationen und Institutionen, die im präventiven Bereich tätig sind, neue Perspektiven eröffnen. Deswegen sind auch in muslimischen Organisationen Maßnahmen, wie beispielsweise unterstützende Workshops, notwendig.

Die politische Dimension dieses Phänomens wird in der Öffentlichkeit zumeist nicht thematisiert, obgleich in der Agenda dieser Gruppierungen neben religiösen Inhalten dem politischen Ziel der Etablierung eines konkreten Gesellschaftsmodells, das seinen Ursprung in der Zeit des Propheten hat, große Bedeutung beigemessen wird. Diese Sehnsucht nach einem anderen Gesellschaftsmodell, in dem die Gesetze Gottes herrschen, und der Wille zur Umsetzung dieser Utopie, müssen als eine politische Ideologie verstanden werden. Die Herausforderung für heutige Gesellschaften besteht also darin, andere Räume für Politik zu schaffen und die Kommunikationsmöglichkeiten mit Gruppen, die am Rande der Gesellschaft stehen, zu erweitern. Da von dem Phänomen der Radikalisierung in erster Linie Jugendliche betroffen sind, sollte mittels maßgeschneiderter politischer Bildung die Grundlage für die Herausbildung eines Identitäts- und Bürgerbewusstseins geschaffen werden, welches auf die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie besondere Rücksicht nimmt. Politische Bildung ist deswegen zentral, weil diese Gruppen nie rein religiös agieren. Sie setzen sowohl  in Rekrutierungs-, als auch in Indoktrinierungsprozess politische Strategien und politische Agenda ein. 

CEAI: Was haben Sie Neues entdeckt, worauf Sie vor der Studie nicht gekommen wären?

Dr.in Ersan-Akkilic: Ehrlich gesagt war alles, was ich in der Studie entdeckt habe, neu für mich. Da ich von der interpretativen Sozialforschung komme, gehe ich ganz offen zu meinem Forschungsfeld und nicht mit bestimmten Theorien oder bestimmten Hypothesen. Biographieforschung ermöglicht diese Offenheit und auch die Entdeckung neuer Perspektiven. Was aber  persönlich mein Interesse weckte und mich auch für eine neue Forschungsidee inspirierte, war die Fixiertheit auf ein geschichtliches Zeitalter und das kollektive Gedächtnis, dass sich ausgehend von dieser Zeit konstruierte.

1 § 278b StGB Terroristische Vereinigung

(1) Wer eine terroristische Vereinigung (Abs. 3) anführt, ist mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren zu bestrafen.

(2) Wer sich als Mitglied (§ 278 Abs. 3) an einer terroristischen Vereinigung beteiligt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.

(3) Eine terroristische Vereinigung ist ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, der darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern dieser Vereinigung eine oder mehrere terroristische Straftaten (§ 278c) ausgeführt werden oder Terrorismusfinanzierung (§ 278d) betrieben wird.

https://www.jusline.at/gesetz/stgb/paragraf/278b

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