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Es ist Zeit über unser Islamverständnis zu sprechen! – Ein muslimischer Nachruf auf die Opfer des Terrors in Wien

Ein österreichischer, radikalisierter junger Muslim hat vor exakt zwei Wochen in Wien einen Terroranschlag verübt und dabei wahllos vier unschuldige Menschen ermordet, denen wir mit diesem Nachruf gedenken. Wir sollen sie stets in Erinnerung behalten und drücken ihren Liebsten unser tiefstes Mitgefühl aus, in dem wir sagen:

Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.
 إِنَّا لِلَّٰهِ وَإِنَّا إِلَيْهِ رَاجِعُونَ‎
ʾinnā li-llāhi wa-ʾinna ʾilayhi rājiʿūn

Dieser Anschlag hat uns in den verschiedensten Bereichen beschäftigt. Die Gesellschaft ist zusammengerückt, nimmt im großen Stil Anteil und gedenkt am nächtlichen Lichtermeer rund um die Ruprechtskirche. Die staatlichen Verantwortungsträger suchen nach Antworten für ihre Pannen beim Schutz der Bevölkerung, weisen die Schuld von sich und rücken den ‚politischen Islam‘ wieder in den Fokus. Moscheen wurden geschlossen und dutzende Razzien in ganz Österreich wurden deshalb durchgeführt. Politik und Medien sprechen auffällig behutsam gegenüber der muslimischen Bevölkerung und versuchen bewusst Pauschalisierung zu vermeiden. Und wir Muslime? Wir tun eigentlich nicht viel. Alle mit Verstand distanzieren sich, selbst wenn manche auf Social-Media-Kanälen mit ihren Beiträgen zu salafistischen (YouTube)Imamen, der Muslimbruderschaft oder dem türkischen Präsidenten nicht begreifen, dass sie damit die Vorarbeit für den Terror leisten. Sie sind es, die den Opfermythos befeuern, damit die europäischen Gesellschaften bewusst spalten und den Nährboden für eine ideologisierte Abgrenzung schaffen. Solange wir dieses Faktum nicht verstehen, bleiben unsere Worte unglaubwürdig.

Wundern wir uns, dass das Gros der Bevölkerung negativ über unsere Religion denkt? Nein, wir wundern uns nicht. Vielmehr sind wir beschämt darüber, was im Missbrauch unserer Religion geschieht. Bei jedem Terroranschlag bitten wir Gott: „Lass es kein Muslim sein!“. Sehr oft vergeblich. Wir wissen, dass ein Teil unserer Glaubensgeschwister offen für radikales und politisches (ideologisches) Gedankengut ist. Dummerweise ziehen diese Muslime zur Legitimation ihrer Ansichten dieselben islamischen Quellen heran wie wir. Das heißt, es gibt offensichtlich unverständliche Qur’anverse oder Prophetenaussagen, aus denen extremistisches Gedankengut abgeleitet werden kann. In diesem Sinne sollten wir auch unseren Umgang mit den Handlungen und Aussprüchen des Propheten (arab. Sunnah) thematisieren und kritisch hinterfragen. Denn nach dem Tod des Propheten instrumentalisierten immer wieder Herrschaftstheologen unsere Religion und setzten sie für bewaffnete Konflikte zum Mittel politischer Strategien ein oder rechtfertigten damit ihre jeweiligen politischen oder ökonomischen Interessen. Erkenne wir nicht, wie manche von uns diesen Herrschaftstheologien folgen?

Die Wahrheit ist, dass wir uns verführen haben lassen und häufig unhinterfragt den Worten von Imamen und islamischen Autoritäten folgen. Dabei merken wir nicht, dass es längst nicht mehr um die Förderung unserer spirituellen Hinwendung und aufrichte Hingabe zu Gott geht. Vielmehr dreht sich alles nur mehr um (Verteidigungs)Politik aus der Opferrolle, sei es beim Kopftuchverbot, bei der Abkürzung unserer Glaubensgemeinschaft in Schulzeugnissen oder bei den Themen ‚politischer Islam‘ und türkischer Nationalismus. Der Glaube vieler unserer Geschwister ist mittlerweile so schwach geworden, dass wir Karikaturen über Muhammad (Gottessegen und Friede auf ihm) rächen wollen. Sie fühlen sich beleidigt, wenn unsere Religion kritisiert wird. Woher kommt das? Haben wir vergessen, wie der Prophet wohl damit umgegangen wäre? Haben wir vielleicht vergessen, dass unsere Religion uns zu besseren Menschen für uns selbst und die gesamte Bevölkerung machen möchte?

Also reden wir darüber, denn auch ein FB-Freund meinte in seinem Blog letzte Woche: „Unser Schweigen ist das Gift“. Er hat recht, wir müssen unser Schweigen brechen und darüber sprechen, vor allem darüber, welches Islamverständnis wir haben und welches wir wollen. Immerhin sind wir in diesem Diskurs nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Haben wir den Terroristen in unserer Mitte erkannt und ihn nicht von seinen ideologischen Einflüssen befreit? Haben wir uns um Hilfe für den Jungen gekümmert, nachdem er aus der Haft entlassen wurde? Haben wir ihn aufgefangen? Trifft uns womöglich eine Mitschuld? Ja, es trifft uns eine Mitschuld. Vielleicht weniger uns selbst als vielmehr die Moscheevereine und Imame, die er aufgesucht hat. Jedoch, ohne die Schuld bei anderen zu suchen, wollen wir sie bei uns suchen. Denn es kann uns nicht einfach egal sein, dass ein Glaubensbruder derart großes Leid verursacht. Diese Bekundung mag wenig helfen, weshalb es ein aufrichtiges Versprechen braucht, unser religiöses Verständnis zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Deshalb haben wir uns ehrlich und aufrichtig mit der folgenden Frage zu beschäftigen:

Welches Islamverständnis sollte auf Basis welcher Grundlagen in Österreich vermittelt werden, sowohl in der muslimischen Gemeinschaft und der gesamten Gesellschaft als auch in der Schule im islamischen Religionsunterricht?

Nun werden wir uns relativ schnell einig, dass kein Islamverständnis der Welt Gewaltanwendung gegenüber Unschuldigen gutheißen wird. Bei der Argumentation darüber, wer, wie und unter welchen Umständen Gewalt ausüben darf, wird es schon schwieriger. Und wenn dann noch eine Politisierung unserer Religion Platz greift, verstehen wir gar nichts mehr. Was bedeutet politischer Islam? Islamismus? Dschihadismus? Was soll all das sein, fragen wir uns. Das heißt, wir müssen nicht nur verstehen lernen, was diese Begriffe bedeuten, sondern auch welches Islamverständnis bzw Rahmenvorgabe wir in Österreich haben wollen. Denn erst dann können wir glaubhaft individuelles, kollektives und korporatives Fehlverhalten theologisch begründen und gleichzeitig die gesamte Gesellschaft darüber informieren. Es liegt deshalb an uns, Klartext über unser Verständnis zu sprechen, wie wir unsere Religion in dieser österreichischen Gesellschaft, Kultur und Politik ausleben wollen. Dafür sollten wir uns ernsthaft und ehrlich mit den folgenden Fragen beschäftigen, vor allem mit den letzten Fragen:

  • Ist unsere Religion wie wir sie verstehen, eine friedliche, solidarische, bildungsanregende Religion, ist sie universell und ethisch vorzüglich gegenüber allen unseren Mitmenschen, unabhängig von Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, etc.?
  • Verstehen wir unsere Religion als spirituelle Lebensweise, in der wir viel Zeit mit Gott und mit uns selbst verbringen, um uns Kraft zu holen, den Armen und Schwachen zu helfen, unsere Eltern zu ehren, uns weiterzubilden oder gesellschaftsfördernde Beiträge zu leisten?
  • Will Gott, dass wir ihn um mehr Ehrlichkeit, Höflichkeit, Selbst- und Nächstenliebe oder Wissbegierde und Strebsamkeit bitten und viele weitere der 99 Attribute in Gottes Namen anstreben, damit ein friedliches und konstruktives Zusammenleben gelingt, weil unsere Religion die Kraft hat, uns zu Vorzeigebürger- und Innen zu machen? Vielleicht können wir unsere Frauen fördern und in höhere Positionen befördern? Vielleicht können wir unseren Nachbarn und Mitmenschen das wünschen, was wir uns auch selbst wünschen?
  • Verstehen wir unsere Religion als ein Instrument für Macht und Politik, um die zuvor bejahenden Fragen umzusetzen? Will Gott von uns, dass wir einen islamischen Staat gründen, einen Khalifen einsetzen und nach islamischem Zivil- und Strafrecht leben?

Der allseits bekannte Professor Emeritus Richard Potz schreibt in Bezug auf die Imamekonferenz 2006 in Wien, was wie ein Weckruf klingt: „Als Ziel hielt die Konferenz die aktive Beteiligung der Muslime und Musliminnen an der Entwicklung der europäischen Gesellschaften fest.“ [Potz/BMEIA, 100 Jahre österreichisches Islamgesetz).

Können wir die Schlusserklärungen der Imamekonferenzen in Österreich (IKÖ) zwischen 2003 und 2010 (sowie die 17 Berliner Thesen des „Muslimischen Forums Deutschland“ aus 2015), die bis dato auf Autoritätsebene wenig beachtet wurden, als Anknüpfungspunkte für ein möglichst einheitliches Islamverständnis in Österreich heranziehen?

Es wäre richtig und wichtig, wenn wir von den schönen Worten und Schriftstücken ins Tun kommen und das Narrativ sowie unser Handeln nachhaltig ändern (zB im Religionsunterricht). Dass bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir unser Verständnis in Bezug auf die fünf Säulen, sechs Glaubensgrundsätzen und auf die innige Hinwendung zu Gott im Gebet, im Verzicht und vor allem im sozialen Handeln für ein vorbildliches Leben im Dienste der gesamten Gesellschaft ändern. Die Änderung zielt auf das Herrschafts- und Überlegenheitsdenken ab, für das hauptsächliche religiöse Analphabeten empfänglich sind. Sohin soll die folgende Frage zum theologischen Diskurs gereichen:

  • Können wir Muslime und Musliminnen uns in Österreich auf die folgenden Grundsätze eines österreichischen Islamverständnisses einigen und danach leben?

Die folgenden Grundsätze eines österreichischen Islamverständnisses gehen mit einem pluralistischen, freiheitsliebenden und sozialen Gesellschaftsbild in Europa einher. Vor allem aber ist es ein Islamverständnis, in dem es keinen politischen Einfluss vom Ausland in das europäische Alltagsleben gibt. Ein solches Islamverständnis, das mit einem ehrlichen Willen vermittelt und verfolgt wird, hat mittel- und langfristig das Potenzial, gefährliche Tendenzen von einem breiten muslimischen Kollektiv frühzeitig zu erkennen und potenzielle Täter abzufangen.

Die Vielfalt im Islam hat ihre Grenzen im Humanismus

Wenn behauptet wird, dass es das „eine“ Islamverständnis nicht gibt, weil der Islam als universelle Religion in den verschiedensten Erdteilen unterschiedlich ausgelegt, gelebt und praktiziert wird, dann ist das bestimmt richtig. Vielfalt ist eine Realität innerhalb des Islams, die zu allen Zeiten als Segen galt und eindeutig positiv besetzt ist. Der Grund hierfür liegt in der von Gott gewollten Vielfalt der Menschheit, wie etwa der folgende Qur’anvers zeigt:

„O Menschen! Siehe, Wir haben euch alle aus einem Männlichen und einem Weiblichen erschaffen, und haben euch zu Nationen und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander kennenlernen möget. Wahrlich, der Edelste von euch in der Sicht Gottes ist der, der sich Seiner am tiefsten bewusst ist. Siehe, Gott ist allwissend, allgewahr.“ (Qur’an 49:13)

In allen Ländern dieser Welt gibt es über die unveränderlichen Pfeiler und Grundsätze des Islam hinaus unterschiedliche Islamverständnisse, die sich mehr oder weniger an den unterschiedlichen islamischen Rechtsschulen (arab. madhahib) orientieren. In Österreich gibt es keine vorrangige Rechtsschule mehr, nachdem der Verfassungsgerichtshof im Jahr 1987 den ‚hanafitischen Ritus‘ aus dem Islamgesetz gestrichen hat, der in der Habsburgermonarchie zwar eingeschränkt, doch insgesamt sehr geschätzt war. Deshalb gilt es umso stärker sich der vielfältigen Islamverständnisse bewusst zu werden, um einen direkten und lebendigen Gedankenaustausch stattfinden zu lassen und zu fördern. In diesem Sinne ist mit dem Wissensschatz der verschiedenen Rechtsschulen kreativ und dialogisch umzugehen und problematische Inhalte im europäischen bzw österreichischen Kontext herauszufiltern. Speziell Imame und SeelsorgerInnen sollten ein Vorbild darin sein, einerseits innere Vielfalt als „Barmherzigkeit“ begreifbar zu machen und andererseits exklusive, gewaltverherrlichende und extreme Islamverständnisse zu verurteilen. Eben dafür braucht es einen pluralistischen, respektvollen und zugleich kritischen Umgang mit unterschiedlichen Meinungen.

Ein Schlüssel zu einem nutzbringenden Umgang mit dieser Vielfalt ist die Einsicht, dass der größte gemeinsame Nenner zwischen MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen in der gleichen gemeinsamen Abstammung aller Menschen liegt. Dies würde die Grundlage für eine Denkschule bilden, die die große humanistische Tradition als zentralen Wert in die Mitte rückt. Ausgehend von einer Wertschätzung und aktiven Auseinandersetzung mit der inneren Vielfalt, sei insgesamt mit Pluralität positiv umzugehen, um ein Teil bei der Entwicklung einer „Kultur der Vielfalt“ zu sein. Dadurch können wertvolle Impulse in die islamische Welt gesendet werden.

Alleine in Gott liegt die Wahrheit

Der Ausschließlichkeitsanspruch der eigenen Religion steht nicht nur einem pluralistischen, sondern auch einem friedlichen Miteinander entgegen. Exklusivismus ist sowohl im Kollektiv als auch für den Einzelnen abzulehnen, damit ein ausschließlicher auf individueller oder kollektiver Wahrheit beruhender (exklusive) Zugang zur letzten göttlichen Wirklichkeit nicht zur Rechtfertigung von Gewalt oder zur Aberkennung der göttlichen Wahrheit anderer Religionen herangezogen wird. Denn durch den Absolutheitsanspruch der eigenen Religionen wird eine Gleichberechtigung aller Dialogpartner verhindert. Gott ruft uns dafür auf:

„[…] Gebraucht euer Unterscheidungsvermögen und sagt nicht – aus einem Verlangen nach den flüchtigen Gewinnen dieses weltlichen Lebens – zu einem, der euch den Friedensgruß entbietet: ‚Du bist keiner der Gläubigen‘ […]“ (Qur’an 4:94)

Im Exklusivismus liegt eine Grundlage für Gewalt. Dass Gott die Wahrheit ist, soll gerade die Wahrheit vor Vereinnahmung durch den Menschen schützen und den Menschen zur Bescheidenheit aufrufen, ein Suchender zu bleiben, der die Wahrheit mit dem Wissen anstrebt, sich ihr annähern, sie aber nie besitzen zu können. Wahrheiten von oben aufzuzwingen, widerspricht dem Geist eines humanistischen Islams, der den Menschen zum freien Menschen macht, der sich von sich aus öffnet. Es liegt ausschließlich in Gottes Hand am Jüngsten Tag (arab. yaum al akhira/yaum al din) über die alle Menschen zu entscheiden. Aus diesem Grund bleibt den Menschen eine allfällige religiöse Beurteilung anderer verwehrt. Vielmehr gilt es, ein Verständnis für den anderen zu entwickeln, womit nicht die Übernahme des Standpunktes gemeint ist. Dafür ist auf Dialog zu setzen, um Vertrauen zueinander aufzubauen und über das Erkennen von gemeinsamen Anliegen und Zielen ein gemeinsames Handeln, insbesondere für das Allgemeinwohl, zu ermöglichen. Gerade der intra- und interreligiöse sowie interkulturelle Dialog hat unter Muslime – etwa in Bezug auf die europäische Geschichte in Spanien, Sizilien oder Bosnien und Herzegowina – eine lange und positive Tradition.

Die zeitlosen, kontextunabhängigen ethisch-moralischen Grundsätze im Islam

Der Islam ist je nach örtlichen, zeitlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Gegebenheiten in einem steten Entwicklungsprozess, weil die Lebenswirklichkeit der Menschen einem ständigen Wandel unterliegt. Und wer weiß schon, was Gott mit einem vorhat:

„Von Ihm abhängig sind alle Geschöpfe in den Himmeln und auf Erden; (und) jeden Tag manifestiert Er sich auf wieder andere (wundersame) Weise.“ (Qur’an 55:29)

Doch unabhängig von der göttlichen Fügung sind in diesem Entwicklungsprozess die religiösen Rituale und moralisch-ethischen Grundsätze immerwährend und fortdauernd. Das heißt, dass etwa die vorbildhaften, göttlichen Tugenden wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Toleranz oder Solidarität und Mitmenschlichkeit unumstößliche Grundsätze des zwischenmenschlichen Umgangs sind. Unser Iman (innere Überzeugung), unsere Spiritualität, muss in unserem Handeln sichtbar und wirksam werden. Schöpfungsverantwortung muss gelebt werden und darf nicht in Worte ohne Taten münden. Wenn es uns Ernst ist mit unserer Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen und unserem Schöpfer, dann ist auch umweltethisches Handeln angesagt. Und, menschenwürdiges Leben in Gegenwart und Zukunft zu sichern, ist aus islamisch-ökologischer und -ökonomischer Sicht mit einer Reihe ethischer Richtlinien verbunden, wie insbesondere die Pflicht zu einem verantwortungsvollen Umgang mit unseren Rohstoffen.

Aus dieser These kann eine fundierte islamische Friedenstheologie abgeleitet werden, deren qur’anische Verse universal und von ihrem Kontext unabhängig zu verstehen sind, während die gewaltverherrlichenden Qur’anverse weniger religiös als vielmehr, zur jeweiligen Zeit und deshalb kontextabhängig, politisch-motiviert zu verstehen sind. In diesem Sinne ist der Islam insbesondere eine Religion der Barmherzigkeit, Liebe und Vergebung, da nur ein solches Verständnis jeglicher Gewaltverherrlichung entgegenwirkt.

Kein holistisches Qur’anverständnis ohne historischen Kontext

Um Missverständnissen im Verständnis unserer Religion vorzubeugen, ist der Qur’an im Sinne einer rationalen Herangehensweise in seinem historischen Kontext zu verstehen, da der Qur’an kein geschichtsbefreiter Text ist. Der Qur’an wurde diskursiv verkündet und kann daher auch heute nur im Diskurs verstanden werden. Diesbezüglich spricht der Qur’an an vielen Stellen davon, dass nicht das Wissen und Handeln der Vorväter blind übernommen werden sollte:

„Denn wenn ihnen gesagt wird: ‚Kommt herbei zu dem, was Gott von droben erteilt hat, und zu dem Gesandten‘ – antworten sie: ‚Uns genügt das, was wir unsere Vorväter glauben und tun fanden.‘ Wie, auch wenn ihre Vorväter nichts wussten und bar aller Rechtleitung war? O ihr, die ihr Glauben erlangt habt! (Nur) für euch selbst seid ihr verantwortlich […]“ (Qur’an 5:104-105)

Ohne den historischen Kontext der Verkündung des Qur’ans im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel zu berücksichtigen, kann der Qur’an missverstanden werden. Demzufolge ist auch die mittelalterliche Einteilung in eine Welt der Gegensätze von „Dar al Islam“ (Gebiet des Islam bzw Gebiet des Friedens mit islamischen Gesetzen) und „Dar al Harb“ (Gebiet des Krieges ohne islamische Gesetze) ist abzulehnen. Diese Konzepte haben weder eine Grundlage im Qur‘an, noch in der Sunnah und ist als historisches, längst überholtes Phänomen von keinerlei heutiger Relevanz. Heute ist neben den klassischen Methoden, allen voran der „idschtihad“, also das Prinzip der freien Meinungs- und Urteilsbildung, das Konzept der „maslaha“ als Gemeinwohlprinzip, sowie die historisch-kritische Methode in der Auseinandersetzung mit dem Qur’an und der Sunnah ernst zu nehmen. Speziell in Bezug auf Frauenrechte im Islam, die entsprechend des Qur’ans für sich genommen eine historische Revolution waren, endet der Entwicklungsprozess dieser Rechte nicht mit dem Tod des Propheten, sondern sorgt im Sinne einer Weiterentwicklung für ein gleichberechtigtes Nebeneinander.

Der Islam ist eine friedliche und gerechte Religion

Der Islam sollte mit seiner tugendhaften bzw ethisch-moralischen Lehre der Gegenpol von Gewalt sein, die aufgrund menschlicher Schwächen, Irritationen und Verführungen entsteht. So ruft Gott etwa die Menschen auf, den geraden bzw gerechten Pfad (arab. sirata al mustaqim) des Friedens zu beschreiten:

„Gott ruft zur Heimstätte des Friedens und leitet, wen Er will, zum geraden Pfad.“ (Qur’an 10:25)

Das heißt, dass Kriege zu vermeiden und Konflikte mittels Diplomatie und Dialog gewaltfrei zu lösen sind. Wer Frieden will, soll seinen Mitmenschen mit Toleranz, Respekt und Dialogbereitschaft begegnen, und insgesamt allen anderen Kulturen und Religionen offen eingestellt sein. Gegen jede Art von physischer und psychischer Gewalt gegenüber Mitmenschen braucht es Zivilcourage. ‚Gute Werke‘ bilden die Maxime des Handelns. Das Einstehen für Frieden und Gerechtigkeit sowie das Festhalten eines diskriminierungsfreien und gerechten Umgangs miteinander sind unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, gesellschaftlichem Ansehen, etc. anzustreben.

„Jene, die Glauben erlangt haben und ihren Glauben nicht mit Unrechttun verdunkelt haben – es sind sie, die sicher sein werden, da sie es sind, die den rechten Pfad gefunden haben!“ (Qur’an 6:82)

Es ist folglich die Aufgabe einer jeden Muslimin und eines jeden Muslims sich für die Sicherheit und den Frieden des Landes sowie seiner Bevölkerung aktiv einzusetzen. Deshalb ist Toleranz gegenüber gewalttätigen Fanatikern inakzeptabel. Hassreden in den sozialen Medien sind zu verurteilen. Antisemitische, rassistische, europa- und österreich(er)feindliche sowie sonstige homophobe Stereotypen und menschenverachtende Hassideologien sind abzulehnen.

Kein Zwang zum Glauben im Islam

Im Islam haben Gedanken-, Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit einen enorm großen Stellenwert, der nicht nur in der Gemeindeordnung von Medina und im Friedensvertrag von Hudaibiya zum Ausdruck kommt, sondern freilich auch im Qur’an zu finden ist.

„Es gibt keinen Zwang in der Religion. […]“ (Qur’an 2:256)
„Und (also ist es:) hätte dein Erhalter es so gewollt, alle jene, die auf Erden leben, hätten sicherlich Glauben erlangt, allesamt: denkst du denn, dass du die Leute zwingen könntest zu glauben.“ (Qur’an 10:99)

Unmittelbar nach dem Leben genießt die Freiheit höchste Priorität im Islam. Sie ist dem Menschen von Geburt an eigen und ist deshalb genauso schützenswert. Die Delegierten der Konferenz kamen überein, in ihrer eigenen Arbeit zu vermitteln, dass der Islam zu Europa gehört. Europäische Werte wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Recht auf Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit etc. sind auch im Islam verankert. Sie stehen in keinem Widerspruch zur islamischen Lehre. Niemand soll etwa aufgrund der eigenen Meinung Sorge um sein Leben haben, diskriminiert werden oder bei der Ausübung der Religion bzw. Weltanschauung behindert werden. In diesem Sinne werden alle Formen des Zwanges in und von der Religion abgelehnt.

Das Selbstbestimmungsrecht der Frau

Die gesellschaftliche und religiöse Zweitrangigkeit von Frauen ist abzulehnen, da im Islam Mann und Frau als gleichwertige Partner mit gleicher Würde anerkannt werden, ihnen dieselben Rechte und Pflichten zustehen sowie gegenseitige Verantwortung tragen. Gott zufolge geht es darum:

„Was einen jeden angeht – sei es Mann oder Frau –, der rechtschaffene Taten tut und überdies einer der Gläubigen ist, – ihn werden Wir ganz gewiss ein gutes Leben leben lassen. […]“ (Qur’an 16:97)

Durch das Selbstbestimmungsrecht der Frau wird eine gleichberechtigte Partizipation in Familie, Gesellschaft und Staat ermöglicht. Das Selbstbestimmungsrecht inkludiert auch das Tragen oder Ablegen des Kopftuches. Bei der Ausübung von Berufen in diesem Zusammenhang orientieren wir uns am geltenden Recht. Jedoch lehnen wir das Tragen des Kopftuches bei Kindern ab. Denn im Vordergrund steht die Wahlfreiheit der Frau hinsichtlich ihres Lebens, inklusive ihres Partners und ihres Aussehens. Das Recht auf Lernen und Lehre, auf Arbeit, finanzielle Unabhängigkeit, aktives und passives Wahlrecht, Teilhabe im gesellschaftlichen Diskurs, etc.; das sind Pfeiler, die diesen Status absichern sollen. Chancengleichheit, Mündigkeit und freie Orientierung ist Frauen zu ermöglichen. Gleichzeitig soll jede Form von Verletzung von Frauenrechten kritisiert und bekämpft werden. Werden Musliminnen aufgrund einer manifestierten Außensicht vor allem als „Opfer“ wahrgenommen, so drängt sie dies in ein Rollenklischee. Sich daraus zu lösen gelingt paradoxerweise schwer, solange die Mehrheitsgesellschaft an der Vorstellung der „religiös gefesselten“ passiven muslimischen Frau festhält. Deshalb wird nicht nur für die Erziehung zum selbstbestimmten Leben, auch hinsichtlich der Sexualität, eingestanden, sondern auch die Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen abgelehnt. Nebenbei erwähnt haben Zwangsehe, FGM (weibliche Genital-verstümmelung), Ehrenmorde und familiäre Gewalt keine Grundlage im Islam.

Die Trennung von Religion und Staat

Da der Politikbegriff sehr umfassend ist und Politik für das Allgemeinwesen eine ethische Voraussetzung bildet, ist im Konkreten für die Trennung der Religion als persönliche Glaubenshaltung (arab. din) vom Staat und seiner Politik als Steuerungsprozesse einzutreten. Das heißt, wir Muslime streben nicht nach politischer Umsetzung einer islamischen Rechtsordnung. Dafür ist einerseits anzuerkennen, dass es keine politische Theorie, kein islamisches Staatsmodell sowie kein Prozedere zur Staatsführung im Qur’an gibt. Andererseits ist anzuerkennen, dass der Prophet als Religionsstifter auch ein Mensch war, der gerade in dieser Funktion in seiner Zeit politische Entscheidungen zu treffen hatte.

„Nun (was dich angeht, o Muhammad,) Wir haben dich nicht anders als zur Menschheit insgesamt gesandt, ein Verkünder froher Kunde und ein Warner zu sein; aber die meisten Leute verstehen (dies) nicht.“ (Qur’an 34:28)

Die Vereinbarkeit einer demokratischen Ordnung mit dem Islam wurde wiederholt durch offizielle muslimische Erklärungen unterstrichen. Dementsprechend sind menschenverachtende Islamverständnisse, wie beispielsweise der Salafismus nicht mit der Werteordnung einer säkularisierten Gesellschaft vereinbar. Die Identifikation mit dem Staat ist dann naturgemäß besonders hoch, wenn eine größtmögliche Deckungsgleichheit mit persönlichen Wertvorstellungen damit einhergeht. Eingebunden in die österreichische Rechtsordnung und in die Religionspolitik des Staates ist einzig und allein die IGGÖ im Rahmen der Kooperation. Das Modell des Anerkennungsstatus für den Islam, wie es in Österreich besteht, ist besonders geeignet, weil es über die emotionale Ebene der Zugehörigkeit einen institutionalisierten Dialog mit sich bringt. Dadurch können Sachfragen im Lande geklärt werden, ohne dass man auf ausländische Gutachten oder Expertisen zurückgreifen muss. Nur mit einem solchen Verständnis kann sich eine Diskurskultur manifestieren, die das demokratische Bewusstsein stärkt und zugleich die Religion vor Missbrauch durch die Politik schützt.

Das Streben nach Wissen

„Lies!“ (arab. iqra) ist das erste offenbarte Wort Gottes (Sure 96) an den Propheten und damit an alle Muslime. Daran anknüpfend sind wir bis heute aufgefordert, uns zu bilden. Ein wacher Geist hinterfragt, sieht, lernt, begreift und analysiert. Bildung und Weiterbildung kennen im Islam keine Grenzen. Sowohl Kunst, Kultur und Musik als auch Gesundheit und Bewegung (Sport) sind aus religiöser Sicht zugängliche Bereiche zur weiteren Wissensaneignung für ein bewusstes Leben. Die Lehre und Forschung müssen sich unabhängig und frei entwickeln können. Sie wirken hinein in den innermuslimischen Diskurs und sollen daher auf höchstem Niveau angesiedelt sein. Eltern und Erziehungsberechtigte sollen ihren Kindern im umfassenden Streben nach Wissen und Erkenntnis ein Vorbild sein. Sie sollen den Gedanken eines „lebenslangen Lernens“ vorleben und die Jugend dazu motivieren, möglichst hohe Bildungs- und Lehrabschlüsse zu erwerben, unabhängig davon wie schwierig ihre jeweilige soziale Situation und Stellung ist. Für den schulischen Kontext bedeutet dieser Grundsatz, dass Schwimmunterricht, Klassenfahrten und Sexualkunde Teil des schulischen Bildungsauftrages sind. Die Wissbegierde und die Motivation sich Bildung anzueignen sind auch der Schlüssel, um eine kritische Diskussions- und Streitkultur unter muslimischen Jugendlichen zu erreichen. Gerade im Zusammenhang mit einem friedlichen und gewaltfreien Zusammenleben aller Bürger sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen.

“Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen in bester Weise. […]” (Qur’an 16:125)

Können und wollen wir uns diesen Grundsätzen annehmen? Ist es möglich, gemeinsam eine österreichisch-islamische Theologie zu entwickeln, die eine progressive, moderne, offene und gestaltende Rolle für eine positive und glückliche Zukunft für dieses Land spielt? Wie wollen wir Österreich als unser Heimatland mitgestalten? Nützen wir den 2. Lockdown und die Zeit danach, uns mit dieser und den oben genannten Fragen zu beschäftigen. Möge uns Allah rechtleiten und uns wieder friedlichere und harmonischere Zeiten bescheren. Salam!

Michael Ameen Kramer

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