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In Vielfalt geeint?

Das Motto der Europäischen Union (EU) lautet seit dem Jahr 2000 „In Vielfalt geeint“. Dieses Motto soll zum Ausdruck bringen, dass die vielen Kulturen, Traditionen und Sprachen den europäischen Raum bereichern und in ihm vereint sind. Mit dieser vielversprechenden und motivierenden Leitidee der EU sind viele junge Europäerinnen und Europäer aufgewachsen. Dieser Beitrag bezweckt die einzigartige Vision „in Vielfalt geeint“ in Erinnerung zu rufen. Die Motivation und das Vertrauen für die europäische Sozialunion scheint besonders in den letzten Jahren, vor allem nach dem „Brexit“ und dem Rechtsruck in einigen Mitgliedsstaaten, geschwächt bzw in Frage gestellt zu sein. Deshalb möchte ich anhand eines konkreten Fallbeispiels aus dem Schulalltag die Bedeutung dieser vorbildhaften Leitidee hervorheben.

Seit einigen Jahren bin ich islamische Religionslehrerin in der Bildungsanstalt für Elementarpädagogik Mater Salvatoris. Besonders mit KollegInnen, die das Fach Religion unterrichten, gelingt uns immer wieder eine erfolgreiche interreligiöse Zusammenarbeit in den Klassenverbänden. Ein Hilferuf kam interessanterweise von einer Pädagogikprofessorin, die in ihrer Unterrichtseinheit den Themenschwerpunkt interkulturelle Erziehung & Pädagogik hatte. Interkulturelle Erziehung beinhaltet unter anderem den pädagogischen Ansatz, indem das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft unter die Lupe genommen und gleichzeitig als Gegenstand produktiver Auseinandersetzung herangezogen wird. Es ist auch durchaus erwähnenswert, dass einige Konzeptionen die interkulturelle Pädagogik aufgrund der Betonung kultureller Einflussfaktoren für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen unterschiedlicher Herkunft kritisieren. Allerdings liegt das Hauptziel der interkulturellen Pädagogik darin, Strategien und neue Denkweisen für ein respektvolles und „wirkliches“ Miteinander zu entwickeln und gegen Exklusion, Vorurteile und Diskriminierungen Präventionsarbeit zu leisten. Explizit geht es also in der interkulturellen Bildung darum, Einstellungen und Meinungen über sich und andere zu reflektieren. Meine Kollegin schilderte folgende Situation aus ihrer Unterrichtseinheit:

Sie eröffnete ihre Einheit mit der Fragestellung: „Wie viele unterschiedliche Sprachen haben wir in unserem Klassenverband?“ Nach dem die Fragestellung im Klassenverband nicht herzlich willkommen war, fragte sie einige SchülerInnen (von denen sie wusste, dass sie unterschiedliche ethnische Wurzeln haben), wie man sich jeweils in der Landes- oder Muttersprache begrüßt. Diese Fragestellung wurde seitens der SchülerInnen als provokante Fragestellung aufgefasst. Eine nicht-muslimische Schülerin mit afrikanischen Wurzeln und eine muslimische Schülerin mit türkischen Wurzeln fühlten sich persönlich angegriffen und konnten ihre Tränen nicht zurückhalten. Die Schülerin mit afrikanischen Wurzeln fragte mit lauter Stimme ihre Professorin, wie sie auf die Idee käme, ihr so eine Frage zu stellen, da ihre Muttersprache Deutsch ist. Und die muslimische Schülerin türkischer Herkunft fragte ebenso mit einem enttäuschenden, verzweifelten Ton ihre Professorin, warum immer Musliminnen und Muslime und Türkinnen und Türken ein Gesprächsthema werden müssen. Bedauerlicherweise erzählte mir meine Kollegin, dass sie diese unangenehme Situation nicht vorhersehen konnte und lud mich zu ihrem Unterricht ein, das Thema „Interkulturelle Bildung“ im Klassenverband gemeinsam aufzuarbeiten. Ich nahm ihre Einladung sehr gerne an und hoffte, dass durch mein Mitwirken vor allem Schülerinnen, die sich persönlich angegriffen fühlten, daraufhin zu motivieren, dass sie einzigartig und besonders sind, egal wie unterschiedlich sie auch sein mögen.

Als ich vor dem Klassenverband stand, der sich sehr heterogen zusammensetzte, betonte ich, dass wir uns innerhalb der europäischen Sozialunion bewegen, in der nationale (Schengen)Grenzen nicht mehr wirklich existieren und wir Menschen uns innerhalb dieser Union frei bewegen und niederlassen dürfen. Es gehören besonders die Menschenrechte, die Grundfreiheiten, die Demokratie oder die Menschenwürde zu den unerlässlichen Grundwerten der EU. Ausgehend von den Grundwerten war mein Anliegen, die Selbstverständlichkeit der pluralistischen Gesellschaften im europäischen Kontext zu betonen. Mein nächstes Anliegen war, Schülerinnen freien Raum für Selbstreflexion zu geben und stellte ihnen Fragen zu ihrem Freizeitverhalten. Die Fragen gingen in eine bestimmte Richtung wie: „Wer mag asiatisches Essen?“ „Wer hat Joga schon ausprobiert?“ „Wer mag verreisen?“ „Wer interessiert sich für Mode, Meditation?“ „Welche Filme sind sehr beliebt?“ Die Schülerinnen hatten viel zu erzählen und die Differenzthematik der Interkulturalität, die zuvor als unangenehm wahrgenommen wurde, löste sich auf und wurde auf einmal zu einer positiven Herausforderung. Mehr noch, sie wurde zu einer Reise in die persönlichen Lebensgeschichten, Einstellungen und Verhaltensweisen der Schülerinnen. Es kristallisierte sich heraus, dass alle im Klassenraum befindlichen Individuen multiple Identitäten aufweisen. Einer der führenden Vertreter der multiplen Identität im postmodernen Zeitalter ist Gergen, der für eine gesunde Existenz des Individuums sich folgendermaßen positioniert: “In der postmodernen Welt gibt es keine individuelle Grundlage, der man treu bleibt oder verbunden ist. Die eigene Identität ensteht fortwährend neu, umgeformt und anders ausgerichtet, während man sich durch das Meer der ständig wechselnden Beziehungen fortbewegt” . (Gergen, Das übersättigte Selbst, 1996, 230) Seine Positionierung ist für den europäischen Kontext zutreffend. Wenn sich das Individuum selbst reflektieren lernt, wird es eine Polarisierung von „Ich“ und „die Anderen“ aufgeben müssen, da das Individuum die Wandelbarkeit des Identitätserlebens in der persönlichen Lebensgeschichte wahrnehmen wird. Insofern ist es eine Selbsttäuschung für das Individuum, sich selbst als eine homogene und reine Identität nach außen kundzutun und nach einer zugrundeliegenden identitären Einheit zu suchen. Wie erwähnt, gehören rechtspopulistische Parteien in Europa längst zum Mainstream, deren Alltagspolitik vor allem auf Ausländerfeindlichkeit, Europaskepsis und Flüchtlingskrise aufbaut. Der populistische Rechtsruck im europäischen Kontext hat zur Folge, dass die Homogenisierungstendenz unter den europäischen Gesellschaften bodenständig wird und die Heranwachsenden unterschiedlicher Herkunft aufgrund des Rechtsrucks verwundet und eingeschüchtert werden. Als Schutzmechanismus bedienen sich die Heranwachsenden der Ausblendung des „Unterschiedlichen“ in der eigenen Person. Nach außen wird präsentiert, was unter „Mainstream“ in der Mehrheitsgesellschaft Bekanntheit und Akzeptanz gefunden hat. Selbst die Mehrsprachigkeit einer Person wird als Defizit wahrgenommen, obwohl viele europäische Länder wie Schweiz oder Belgien gleichzeitig mehrere Landessprachen haben. Zurück zu unserer Unterrichtseinheit.

Meine Kollegin fragte mich vor dem Klassenverband, ob ich mit meinem (islamischen) Outfit Diskriminierung erlebe und wie ich persönlich die Blicke außenstehender Personen wahrnehme. In diesem Moment betonte ich, dass die persönlichen Wahrnehmungen gestaltbar und formbar sind. Zu dieser Fragestellung teilte ich eine für mich sehr lehrreiche und persönliche Erinnerung mit den Schülerinnen und hoffte, dass auch die Schülerinnen ihre persönlichen Wahrnehmungen reflektieren und vorurteilsfrei denken und handeln lernen. Meine Schwester und ich wurden von einem (möglicherweise) österreichischen Paar in der U-Bahn sehr auffällig beobachtet. Die Blicke des Paares wurden für uns sehr unangenehm. Meine Schwester und ich begannen über dieses Paar zu sprechen. Nach vielen Stationen stiegen wir mit dem Paar in der gleichen U-Bahn-Station aus. Dieses Paar kam überraschenderweise zu uns. Der Mann sprach uns an und fragte uns sehr höflich, ob sie mit uns kurz sprechen dürften. Wir blieben stehen und nickten. Der Mann sagte: „Ihr seid wie die Prinzessinnen der 1000 und einen Nacht!“ Das Paar wünschte uns alles Gute und verabschiedete sich von uns. Meine Schwester und ich waren sehr überrascht. Kurz gefasst: Was man denkt, reflektiert man auch. Wenn eine muslimische Frau beispielsweise denkt, dass sie mit ihrer äußeren Erscheinung in Europa nicht erwünscht ist, ist sogar ein Blick auf sie eine persönliche Belastung und ein Grund dafür, dass sie sich aufgrund des einen Blickes diskriminiert fühlt.

Nach der Erzählung meiner persönlichen Erinnerung meldeten sich wieder Schülerinnen mit ähnlichen Beispielen aus ihren eigenen Lebensgeschichten. Eine Schülerin teilte uns mit, dass sie aufgrund eines persönlichen Erlebnisses immer noch Schuldgefühle habe. Sie erzählte, dass sie eine bedürftige Person ignoriert hatte, obwohl sie ihre Hilfe anbieten hätte können. Die Ignoranz begründete sie ebenso mit ihren eigenen Vorurteilen. Die Stunde war vorbei und die SchülerInnen meldeten sich immer noch zu Wort obwohl es läutete. Ich musste leider die Stunde mit einem kurzen Appell beenden. Dieser Appell lautete folgendermaßen:
„Lassen wir uns von Homogenisierungstendenzen nicht einschüchtern. Lieben und schätzen wir uns selbst wie wir sind und die anderen wie sie sind!“

Und zurück zum Anfang des Beitrages „EU- In Vielfalt geeint?: Ohne dieser Vision gelingt uns kein Miteinander sondern nur ein Nebeneinander.

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