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Das Mädchen Wadjda aus Saudi Arabien zu Beginn des neuen Jahres 2017

In meinen Beiträgen in Citizenship Education beziehe ich mich zumeist auf meine Praxiserfahrungen aus dem Lebensraum Schule. Die Heranziehung dieses Lebensraums als sozialer Mikrokosmos ergibt sich daraus, dass dieser institutionalisierte Ort einerseits die heranwachsenden Individuen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleitet und diese Individuen künftig die Hauptakteure unseres Gesellschaftssystems sein werden.  Ein Umkehrschluss bringt mit sich, dass jede/r Erwachsene mehr oder weniger an die persönlichen Schulerfahrungen zurückblickt und seine aktuellen Perspektiven bzw. Meinungen mit diesen Erfahrungen teilweise in Verbindung setzt. Es ist ein Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, in der Wertevermittlung zur Mündigkeit beizutragen und die heranwachsenden Individuen mit unterschiedlichen Kompetenzen auszustatten.

Nun zum konkreten Anlass dieses Beitrages, der meines Erachtens auf eine gelungene Wissens-, Kultur- und Wertevermittlung hinweist. Von einer Kollegin aus meiner Schule bekamen die SchülerInnen Im Unterrichtsfach “Deutsch” als Leselektüre den Jugendroman „Das Mädchen Wadjda [Wadschda]“ von Hayfa Al-Mansour. Anschließend sah die Schülergruppe den im Jahr 2012 gedrehten Spielfilm mit dem Titel des Romans, dessen Regisseurin wiederum Hayfa Al-Mansour gewesen ist. Meine Kollegin sagte mir, dass sie mit der islamischen Religion und mit den Verhältnissen in Saudi Arabien wenig vertraut ist, weshalb sie mich zu ihrem Unterricht einlud, um die Fragen ihrer SchülerInnen zu beantworten. Auf diese Einladung freute ich mich sehr und erklärte mich dazu bereit. In ihrer Bitte erkannte ich die große Sensibilität und Toleranz für die islamische Religion.

Vor der Unterrichtseinheit gab sie mir den Film, das Buch und die gesammelten Fragen von den SchülerInnen, um konkret auf die Fragen eingehen zu können. Hauptakteurin des Filmes ist Wadjda, die elf Jahre alt ist und in Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, lebt. Ihr allergrößter Traum ist ein Fahrrad zu besitzen und mit ihrem Freund Radfahren zu können. Allerdings ist sich auch Wadjda der Tatsache bewusst, dass es „nicht schicklich“ ist, dass Frauen Radfahren. Diese Tatsache hält jedoch Wadjda nicht davon ab, auf ihren ersehnten Wunsch mit dem Fahrrad zu bestehen und bereitet sich deshalb für einen sehr anspruchsvollen Koranrezitationswettbewerb vor, um den Preis zu gewinnen und ihren Traum mit dem Fahrrad verwirklichen zu können. Dazu sei erwähnt, dass  die Religionspolizei erst seit 2013 ausschließlich in Erholungsgebieten, in Begleitung eines männlichen Verwandten und unter Wahrung der gesetzlichen Bekleidungsvorschriften das Radfahren erlaubt . In diesem Zusammenhang sei auch gesagt, dass in Saudi-Arabien erst seit 2015 Frauen ab 30 Jahren, ohne Make-Up und mit der Zustimmung eines männlichen Vormundes, außer freitags von 07:00 bis 20:00 Uhr, Autofahren dürfen.

Der Film spiegelt in seinen Grundzügen ein Gesellschaftsbild, das ultrakonservativen religiösen Regeln unterworfen ist. Demzufolge wird veranschaulicht, dass wadjda-beitrag-sule2Geschlechtertrennung durch die Religionspolizei kontrolliert wird, junge Mädchen aufgrund ihrer Menstruationsreife als Volljährige gelten und verheiratet werden, sowie, dass Frauen durch eine Vollverschleierung sich in der öffentlichen Sphäre unsichtbar machen müssen. Die Opfer dieser patriarchalischen und radikalen Gesellschaftsordnung sind die Frauen, die sich allerdings gegenseitig als KonkurrentInnen wahrnehmen: Beispielsweise ahnt die Mutter von Wadjda, dass ihr Mann eine zweite Frau heiraten wird und plant, sich für die Hochzeit ihres Schwagers sehr schön zu machen. Sie kauft also ein neues Kleid, da sie weiß, dass sich die Brautkandidatin ihres Mannes ebenfalls auf dieser Hochzeit befinden wird. In dem Film ist ebenfalls zu sehen, dass die Mädchen in geschlechtergetrennten Bildungseinrichtungen sich frei bewegen dürfen, allerdings die Mitnahme von Freundschaftsbänden, Nagellack oder Musikkassetten absolut verboten ist. Die Mädchen dürfen auch nicht so eng miteinander befreundet sein, weil die Direktorin automatisch den Verdacht auf lesbische Beziehung entwickelt. In einer Szene wird auch gezeigt, dass zwei Schülerinnen von der Schuldirektorin aus der Schule suspendiert werden. Weiters zeigt der Film das gesellschaftliche Dilemma der BürgerInnen in Saudi-Arabien: Die nichtverheirateten Liebespaare müssen sich aufgrund religionspolizeilichen Kontrollen zur Geschlechtertrennung Lügen ausdenken, um sich trotz des Verbotes treffen zu können. So übernimmt Wadjda die Funktion einer Briefträgerin, um dem Bruder, eigentlich dem Freund, ihrer Mitschülerin einen Brief zu übermitteln, da Wadjda noch nicht im religiösen Sinne volljährig ist und sich noch uneingeschränkt bewegen darf.  Da Wadjda ein sehr schlaues Mädchen ist, weiß sie ganz genau worum es sich dabei handelt, und verlangt dafür Geld, weil sie fleißig für ihr Fahrrad spart. Das Ende des Filmes möchte ich nicht verraten, da meiner Meinung nach der Film äußerst sehenswert ist.

Die Fragen der SchülerInnen begannen interessanterweise meistens mit „Warum?“. Warum müssen sich die Frauen in Saudi-Arabien vollverschleiern? Warum dürfen die Männer gleichzeitig mehrere Frauen heiraten? Warum werden die Frauen in Saudi-Arabien unterdrückt? Warum dürfen die Frauen nicht Autofahren, nicht Radfahren? Warum dürfen die Mädchen keinen Nagellack tragen oder Musik hören? usw. Bei einigen Fragen stellte ich fest, dass die SchülerInnen ihre Fragen mit der islamischen Religion in Verbindung setzten, wie: Warum müssen die muslimischen Frauen in der islamischen Religion ein Kopftuch tragen? Ist eine muslimische Frau dem Mann in der islamischen Religion untergeordnet?

Als ich die Fragen las und vor der Klasse stand, fühlte ich mich nicht in einer Verteidigungsposition als islamische Religionslehrerin, da sowohl meine Kollegin als auch die SchülerInnen großes Interesse daran hatten, warum ein islamisches Land wie Saudi-Arabien all die erwähnten Beschränkungen mit der islamischen Religion begründet. Das Königreich Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie in Vorderasien, die eine Trennung von Staat und Religion nicht vorsieht. Das größte Dilemma ergibt sich einerseits daraus, dass im Jahre 1912 Absolutismus in der Grundordnung festgeschrieben, und andererseits der hanbalitische Islam in seiner wahhabitischen Prägung zur Staats- und Hauptreligion wurde. Wesentliche Charakteristika dieser radikalen Lehre sind, dass das historische Erbe von Primär- und Sekundärquellen als unveränderliches Dogmengebäude betrachtet wird und die Anhänger der wahhabitischen Lehre lediglich für sich in Anspruch nehmen, die islamische Lehre authentisch zu vertreten. Toleranzlosigkeit dieser radikalen Lehre zeigt sich auch daran, dass philosophische und mystische Werke nach der Eroberung Saudi Arabiens vernichtet wurden und die Grabmäler vieler großer Persönlichkeiten des frühen Islams zerstört wurden. Meinungsfreiheit, und generell universale Menschenrechte sind dieser radikalen Lehre fremd, in der vor allem Frauen die Opfer dieses Staatssystems werden.

Dieses Beispiel soll zeigen, dass die SchülerInnen früher oder später mit islamischen Inhalten konfrontiert werden und es sinnvoll erscheint, den nicht-muslimischen SchülerInnen im Lebensraum Schule Möglichkeiten zu schaffen und über die islamische Religion aufzuklären.  Mit dem ersten Artikel dieses Jahres wünsche ich, wie es auch im Sinne der mutigen Autorin und Filmregisseurin Hayfa Al-Mansour ist, vollkommene Freiheit für die Frauen in Saudi Arabien und zu allen Frauen auf der Welt, die im Namen des Islams unterdrückt werden. Weiters wünsche ich ein friedliches Neues Jahr 2017 fern von Kriegen und Terroranschlägen auf der ganzen Welt.

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